Das Weg-Wort Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 11. Oktober 2019
Gottlos
Lieber Gott
Befreie mich von den Bildern, Traditionen, Begriffen,
mit denen ich mir vormache, dich zu erkennen oder zu verstehen.
Amen.
So wird vermutlich selten gebetet. Eigentlich erstaunlich. Denn im Grund ist
uns ja klar, dass Gott zuerst einmal einfach ein Begriff ist, genährt von
Bildern, die uns vermittelt wurden, von Traditionen, mit denen wir
aufgewachsen sind, von Geschichten, die wir in uns aufgenommen haben. Und
mit all dem ist ja im Prinzip noch nichts über die Wirklichkeit Gottes
gesagt.
Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart hat in seiner Predigt über die
Armut des Geistes geschrieben:
Darum bitte ich Gott, dass er mich gott-los (wörtlich: Gottes quitt)
mache
Er erklärt in dieser Predigt, dass man Gott ja immer als ein Etwas
behandelt, als etwas, das man liebt, etwas, dem man sich hingibt, dessen
Willen man erfüllen will. Man hat einen Gott, an den man glaubt. Wie ein
Ding, sozusagen. Für Eckhart jedoch ist Gott jenseits aller Dinge, aller
Begriffe. Gott ist jenseits allen Wollens, Liebens, Vertrauens oder Habens.
So meint es der Mystiker, wenn er sagt, man müsse gott-los werden.
Diese Erkenntnis eignet sich allerdings schlecht für den Glauben im Alltag.
Dort, wo Menschen Trost, Kraft und Vertrauen suchen. Wo sie Gelassenheit
angesichts grosser Herausforderungen brauchen. Da ist es gut, Gott zu haben.
Aber das Wissen, dass das Eigentliche, Gott, jenseits all dieser Kategorien,
ist, schützt davor, in starre Haltungen, in unhinterfragbare Dogmen und
intolerantes Scheinwissen zu verfallen.
Lieber Gott
bitte, mach mich gottlos,
damit ich dich nicht habe,
sondern ahne,
dass du bist.
Amen.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Fragment Meister Eckhart
Fragment von Predigten Meister Eckharts aus dem ersten Viertel des 14.
Jahrhunderts (App. Dipl. Goett. 10 E IX, 18)
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