Weg-Wort vom 27. Januar 2010
Durch die rosarote Brille betrachtet
Ein herrlicher Tag war das neulich! Die Sonne schien bereits am Morgen ins
Zimmer, Vögel zwitscherten. Ich glaubte, einen Hauch von Frühling zu spüren,
und das weckte alle meine Lebensgeister. Ein Glücksgefühl durchströmte mich.
Die Arbeit ging mir leicht von der Hand. Auch die ungute Nachricht konnte
mich zunächst nicht aus der Fassung bringen. Ich sah einfach alles positiv,
wo ich sonst die rabenschwarze Brille aufgehabt hätte. Doch die schlechte
Nachricht liess sich weder schönreden noch verdrängen. Der farbige Filter,
der alles in ein rosiges Licht getaucht
hatte, verblasste zusehends. Mein Blick durch die rosarote Brille hatte
leider nur die eine Hälfte der Wirklichkeit abgebildet. Meine Wahrnehmung
war kein Abbild der Realität, sondern meine eigene Konstruktion aus meiner
subjektiven Perspektive.
Weitreichend sind die Auswirkungen des Blickes durch die rosarote Brille,
wenn
wir enttäuscht sind von Menschen, von unserem Beruf oder gar enttäuscht über
uns selbst, unser Versagen und Scheitern. Das Leben ent-täuscht uns nämlich
immer wieder. Enttäuschungen führen oftmals zu Resignation und Verbitterung.
Träume werden aufgegeben, wir sind auf der ganzen Ebene desillusioniert. Die
Ent-täuschung will uns von den Illusionen befreien, die wir uns gemacht
haben über uns selbst. Sie reisst uns die rosarote Brille vom Gesicht und
gibt den Blick frei auf die Wahrheit unseres Lebens. Nüchtern betrachtet
wird diese Wahrheit zunächst zwar wehtun, aber sie lässt uns weiter sehen
und tiefer. Denn mit Selbsttäuschung zu leben macht uns auf Dauer nicht
glücklich.
Es ist wie bei Frischverliebten: Sie sind dermassen überwältigt von
Glücksgefühlen, dass ihr Blick durch die rosarote Wolke zu getrübt ist, um
den andern so zu sehen und wahrzunehmen, wie er wirklich ist. Nach und nach,
wenn die Phase der ersten Verliebtheit vorüber ist und der Alltag Einzug
hält in die Beziehung, kommt die Ernüchterung: Die Einschätzung des
geliebten Menschen war falsch. Jetzt aber ist Zeit für Korrekturen, denn die
Enttäuschung hebt die Täuschung auf und ist die Chance, das wahre Wesen
eines Menschen zu entdecken, das Bild, das Gott sich von ihm gemacht hat.
Dann hat die Lebensrealität etwas Befreiendes, denn so darf jeder Mensch der
sein, der er ist. Ohne Idealisierung, dafür in seiner Einmaligkeit.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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