Weg-Wort vom 18. Januar 2007
Schulung unserer Wahrnehmung
Eine Geschichte lautet: Zwei Mönche stehen an einem Wasser. Der eine sagt:
Sieh nur, wie munter die Fischlein im Wasser spielen. Da sagt der andere:
Wie kannst du das wissen? Du bist kein Fisch! Nun sagt der erste: Wie
kannst du das wissen, bist du ich?
Diese kleine Geschichte besagt, dass unsere Wahrnehmung von Welt und Dingen
immer begrenzt ist und mit Interpretation zu tun hat. Ein Mensch schaut den
Fischen zu. Er fühlt sich angesprochen und entdeckt, dass sie spielen. Und
da Spielen bekanntlich lebendig macht, sind die Fischlein eben auch munter.
Weiss er aber mit Sicherheit, ob sie spielen und ob sie gar munter sind?
Sicher ist nur eines: Er hält sich am Wasser auf, in dem er schwimmende
Fische erblickt.
Der zweite Mönch will dem ersten einen Denkanstoss geben und ruft ihm sein
Menschsein in Erinnerung: Wie kannst du das wissen? Du bist kein Fisch.
Der erste Mönch soll sich seiner Begrenztheit bewusst werden und erkennen,
dass seine Wahrnehmung subjektiv und seine Erkenntnis relativ ist.
Der Mensch sieht etwas und zugleich interpretiert er immer auch das, was ihm
begegnet. Die Interpretation hat mit ihm selber zu tun, mit seinen Gefühlen,
mit seinen Erfahrungen, mit seiner Eigenart. Innere Bilder, Erfahrungen und
Gestimmtheiten werden im Aussen gesehen.
Wir können Menschen und Dinge nie ganz und richtig wahrnehmen. Es gibt aber
doch Möglichkeiten, unsere Wahrnehmung zu verbessern. Ein wichtiger Weg
dazu ist die Entwicklung und Stärkung der sogenannten Empathie, d.h. des
Vermögens, sich gewissermassen in die Haut des anderen zu versetzen und zu
verstehen, warum er die Welt und Dinge darin in einer bestimmten Art und
Weise sieht.
Die Entwicklung von Empathie ist heute im Besonderen herausgefordert. Wir
wachsen immer mehr zu einer multikulturellen Gesellschaft zusammen, in der
das Zusammenleben ohne die Fähigkeit, sich in andere Kulturen, Mentalitäten,
Religionen hineinzudenken und zuleben, rein unmöglich ist. Am heutigen Tag
beginnen wir die Gebetswoche für die Einheit der Christen. Möchte sie uns
neben dem Gebet für die Einheit nicht auch einladen, uns immer vertrauter zu
machen mit den Eigenarten und Ausdrucksweisen der anderen Konfessionen?
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche