Weg-Wort vom 21. September
Von der Freiheit nicht zu verurteilen
Ich muss es zugeben: Ich habe diese Leute aus dem Balkan jahrelang
abgelehnt. Was ich da gehört und gelesen habe über sie, hat mich wütend
gemacht. Bei jeder entsprechenden Abstimmung habe ich mich darum gegen sie
entschieden. Für mich waren sie der Inbegriff des Schlechten, die schwarzen
Schafe eben.
Vor einigen Jahren habe ich nach langem Sträuben meinem Freund zuliebe
Ferien im Balkan gemacht. Entgegen allen Befürchtungen war ich hell
begeistert. Seither fahren wir jedes Jahr dorthin in den Urlaub. Da ist
nichts von all dem, was hier schlecht über sie geredet wird. Im Gegenteil
wir haben so gute Erfahrungen gemacht mit allen Menschen. Wir erleben dort
viel weniger Aggressionen als hier von unseren eigenen Landsleuten. In
Sachen Menschlichkeit, Freundlichkeit und Zuvorkommenheit sind sie uns um
einiges voraus.
Ich schäme mich, sagte die Frau eben aus dem Urlaub zurück, dass ich mich
von Schlagworten verführen liess und diese Menschen früher pauschal
verurteilt und schlecht gemacht habe, ohne sie zu kennen. Nur, weil sich
einige von ihnen daneben benommen oder gegen die Gesetze verstossen haben.
Im Grunde war ich das schwarze Schaf zusammen mit allen ehemaligen
Gleichgesinnten.
Wir sind schnell geneigt, uns von angstmachenden Schlagworten beeinflussen
zu lassen. Pauschalurteile gehen uns leicht von den Lippen, auch wenn wir es
gar nicht immer so wollen. Das Bewerten und Verurteilen steckt so tief in
uns drin, dass wir uns ihm nur schwer entziehen können. Mit der
Verallgemeinerung einzelner Erfahrungen und persönlicher Meinungen zu
generellen Urteilen möchten wir ihnen ja oft nur mehr Bedeutung und ein
grösseres Gewicht geben.
Aber es sind gerade diese schnellen Urteile, diese Pauschalisierungen, die
so ungeheuer viel Leid verursachen - in unseren Familien und Partnerschaften
wie in der Gesellschaft und der Politik. Wir tun damit anderen zum Teil
massiv Unrecht - und engen uns gleichzeitig selber ein, berauben uns der
Freiheit des Denkens.
Der christliche Glaube warnt uns vor solchen pauschalen Verurteilungen:
Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt
nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt. Verzeiht, dann wird Gott euch
verzeihen. Gebt, dann wird auch euch gegeben werden - in reichem, vollem,
gehäuftem, überfliessendem Mass. Christlicher Glaube lädt uns vielmehr ein:
Werdet barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist. (Lk 6, 36ff)
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Hauptbahnhof Zürich
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