Weg-Wort vom 8. Februar 2008
Ich kann nicht klagen!
Auf meine Frage, wie es ihm gehe, gab der Mann zur Antwort: Ich kann nicht
klagen! Und dann begann er zu erzählen, wie streng er es doch habe. Ja
manchmal sei es ihm fast zu viel. Aber er mache es gern. Nur einige wollen
halt nicht sehen, was er alles für die Firma tue.
Nachdem er seine Klagerede beendet hatte, ergänzte ich, dass er sicher
stolz sei auf das, was er alles leiste aber auch ein wenig auf sein
Vielbeschäftigtsein. Er schaute mich zuerst mit grossen Augen erstaunt an,
überlegte eine Weile und bestätigte dann, dass er sogar mächtig stolz sei.
Darauf angesprochen, dass er sich nach seinem Satz Ich kann nicht klagen
fast nur beklagt habe, schaute er mich wieder überrascht und fast
entgeistert an. Auch das war ihm nicht bewusst.
Vielleicht ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass in vielen Gesprächen eine
Grundmelodie des Sich-Beklagens und -Beschwerens oder des Sich-Rühmens
mitschwingt die Betreffenden aber nie ausdrücklich dazu stehen würden.
Wir erlauben uns eher selten, uns klar und deutlich zu beklagen oder uns
selbst für ein gutes Gelingen zu rühmen. Das gehört sich nicht, denken wir.
Dabei können eine Klage aus tiefer Seele oder ein ehrliches Sich-Rühmen
heilsam sein.
Die Aussage Ich kann nicht klagen ist oft wörtlich zu verstehen. Manche
können nicht klagen, weil sie es sich nicht erlauben oder weil sie niemanden
haben, dem sie sich anvertrauen.
Die Klage aber braucht ein Gegenüber! Eine Vertrauensperson, die wirklich
zuhört, den Klagenden ernstnimmt, ihn in seiner Klage annimmt und sie nicht
gleich wieder zurecht rückt. Wenn ich bei meinem Gegenüber mit meiner Klage
sein darf, wenn ich mich von ihm gehört und verstanden fühle, wenn meine
Klage angekommen ist, dann fühle ich mich wie erlöst und befreit und brauche
mich nicht weiter zu beklagen. Dann bin ich zudem wieder in der Lage, auch
die anderen Seiten der beklagten Situation zu sehen und zu würdigen.
In den Psalmen der Bibel nehmen die Klagen einen breiten Raum ein. Wer vor
Gott klagt, vertraut darauf, dass er ihm zugewandt ist und er ihn in seiner
Klage hört und annimmt. Das Klagen der Betenden ist Ausdruck einer
vertrauensvollen Beziehung zu Gott, die eine Vergangenheit kennt und eine
Zukunft hat. Betende dürfen ihr Leiden hemmungslos und aus tiefstem Herzen
zum Ausdruck bringen. Denn sie wissen um die von Gott erfahrene Gnade
früherer Tage und um seine alles umfassende, auch künftig nie versiegende
Güte und Liebe.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
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