Weg-Wort vom 2. April 2007
Wüstenzeit
Die Fastenzeit ist wie eine Wüstenwanderung:
Die Wüste öffnet endlos weite Räume, in denen wir uns verlieren können. Da
ist kein Halt. Nichts, woran wir uns orientieren könnten. Wir sind ganz auf
uns allein gestellt. Da ist aber auch nichts, was uns ablenkt von uns
selbst. Da fallen alle selbst gebastelten Masken und Verkleidungen und alles
Äussere von uns ab. Wir stehen gleichsam nackt vor uns selbst. Wir sehen,
wer wir eigentlich sind. Wir erleben uns in unserem Selbst. Wir sind uns
selbst nah. Wir haben die Chance, uns so anzunehmen, wie wir wirklich sind.
Die Wüste ist kein Ort zum Bleiben. Jeder Stillstand wäre tödlich. Die Wüste
lässt uns immer wieder neu aufbrechen, von Oase zu Oase. Wie viel Wüstenzeit
brauchen wir, um verkrustete Strukturen und alte Gewohnheiten, die uns
gefangen halten, loszulassen? Die uns zu ersticken drohen, wenn wir nicht
immer wieder den Aufbruch wagen in eine neue Freiheit?
Die Wüste kann gefährlich sein. Denn hier berühren sich die Extreme Hitze
und Kälte, Tod und Leben, trostlose Einöde und überquellende Üppigkeit einer
Oase. Die alten Einsiedler der Wüste sprachen von Dämonen, die da heissen:
Langeweile, Leere, Ungeduld, Gier, Enttäuschung, Wut, Überdruss,
Depression, Angst.
Wer sich diesen Dämonen stellt und mit ihnen ringt, wird früher oder später
auch den Engeln begegnen, die da heissen: Freude, Zufriedenheit,
Wahrhaftigkeit, Zuversicht, Gemeinschaft, Glück, Erfüllung, Liebe.
Das Leben ist anders für den, der durch die Wüste gegangen ist:
Das Selbstverständliche ist nicht einfach selbstverständlich, das
Gewöhnliche nicht mehr gewöhnlich.
Wüstenzeiten reinigen unseren Geist und unsere Seele und helfen, das
Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.
Sie schärfen die Aufmerksamkeit für die Wunder des Alltäglichen, für die
eigene Wahrheit, für das Geheimnis eines jeden Menschen, der uns begegnet,
für die Spuren des Göttlichen in unserem Leben.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
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