Weg-Wort vom 3. Januar 2011
Neu-seh-Jahr
In vielen Medien wurde auf das vergangene Jahr zurückgeblickt. Da wurden
zumeist Ereignisse chronologisch oder thematisch aneinander gereiht. Das
meiste war mir noch in bewusster Erinnerung. Einige Geschehnisse nahm ich
überrascht wieder zur Kenntnis: Ja, das war ja auch noch!
Für mich ist die Jahreswende stets auch ein Anlass, auf mein persönliches
Jahr zurückzublicken: Was hat mir gut getan? Was war wichtig für mich? Was
hat mich in meinem Menschsein weitergebracht? Welche Beziehungen und
Freundschaften sind gewachsen, welche eher verblasst? Was vom letzten Jahr
kann ich abschliessen und loslassen? Was fordert mich weiter heraus?
Ich bin immer wieder erstaunt, wie sich im Rück-Blick manches anders zeigt
als jeweils im unmittelbaren Erleben. Ein Ereignis zum Beispiel, das mich
wochenlang beschäftigte, erweist sich in der Rückschau als eher unbedeutend.
Leise und unscheinbare Erlebnisse erhalten bei näherer Betrachtung ein viel
grösseres Gewicht, als ich es bisher wahrnahm.
Wenn die alten Worte auf der Zunge absterben, entspringen dem Herzen neue
Melodien. (Rabindranath Tagore) Ich will mich darum nicht festlegen auf
das Vergangene, auf meine Lebensgeschichte. Ich möchte nicht Gefangener
meiner bisherigen Verhaltensmuster, meiner vergangenen Enttäuschungen und
Verletzungen bleiben. Was ich vom vergangenen Jahr abschliessen und
loslassen kann, belastet meine Sicht nach vorn ins Neue Jahr nicht mehr.
Ich öffne mich vielmehr der Möglichkeit, mich selber, meine Lebenspartnerin,
meine Arbeitskollegen, meine Umgebung und die Welt im neuen Jahr auch neu zu
sehen nicht mit den Augen des Schon immer Wissens, nicht durch die
Brille meiner Vorstellungen und Meinungen.
Vielmehr mit neugierigen, unverstellten, offenen Augen, die bereit sind,
auch das vermeintlich Bekannte und Vertraute immer wieder wie eine noch
unberührte Landschaft zu sehen und sich neu überraschen zu lassen.
Vielleicht kommt es ja nicht so sehr darauf an, stets Neues zu erleben.
Vielleicht ist es kraftvoller, das was ist, neu sehen zu lernen - und dem
Herzen neue Melodien entspringen zu lassen. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen
und mir ein kraftvolles und überraschungsreiches Neu-seh-Jahr.
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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