Das Weg-Wort Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 11. Juni 2020
Der Segen
Erst seit ein paar Tagen ist der Mann im Spital. Es ist mein erster Besuch
bei ihm. Er ist erschüttert, denn seine Krebsdiagnose ist vernichtend. Er
wird nicht mehr lange leben.
«Wissen Sie, dass ich sterben muss, das ist unvorstellbar bitter. Aber ich
glaube, damit werde ich mich abfinden. Was mich aber zur Verzweiflung
bringt, ist mein Sohn. Er ist erst zehn. Dass ich ihn seit der Scheidung
nicht mehr so häufig sehe, ist schon schlimm genug. Aber jetzt zu wissen,
dass ich ihn gar nicht mehr sehen werde, dass ich ihm nichts mehr geben
kann, für sein Leben, dass ich ihn nicht erwachsen werden sehe das
zerreisst mich.»
Nun weint er. Wir schweigen lange. Irgendwann im weiteren Gespräch sage ich,
es komme mir jetzt ein sehr alter Brauch aus der Welt des Glaubens in den
Sinn. In der Bibel sei es oft so, dass ein Vater am Ende seines Lebens seine
Söhne segne. Damit gebe er ihnen all den Lebensreichtum, den Gott ihm
geschenkt habe, mit auf den Weg. Seine Weisheit, seine Kraft, seine
Hoffnung, sein Vertrauen in die guten Mächte Gottes. Mit dem Segen stelle
der Vater die Kinder sozusagen unter die Obhut Gottes. Und gebe sie
gleichzeitig aus seinen Händen. Vielleicht - sage ich zu ihm - finde er eine
stimmige Art, seinem Sohn den Segen zu mitzugeben.
Der Mann ist berührt. «Ja, sagt er. Das kann ich noch für ihn tun. Und dann
können wir auch miteinander reden: Was wir zusammen erlebt haben und was ich
ihm wünsche. Ich bin zwar nicht so gläubig, aber das will ich versuchen.»
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Foto: istock/south agency
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