Weg-Wort vom 19. Juni 2008
Gewinnen und verlieren
Als ich vor einiger Zeit im Zug fuhr, sass ein Ehepaar aus der Westschweiz
mit einem ungefähr sechsjährigen Knaben im Coupé nebenan. Die Eltern machten
mit dem Kind ein Würfelspiel. Erst als das Kind in Freude ausbrach, wurde
ich auf sie aufmerksam. Ob zu Recht oder von den Eltern beabsichtigt, weiss
ich nicht, der Kleine war auf jeden Fall Sieger im Spiel. Das Kind rief
immer aus: J ai gagné Ich habe gesiegt. Noch nach zehn Minuten war die
Siegesfreude des Kindes spürbar.
Die Freude des Kindes ist begreiflich; einmal stärker sein als die Eltern,
sie einmal besiegen können. Das stärkt das Selbstvertrauen und das
Selbstwertgefühl. In Spiel und Sport alles dransetzen, um zu gewinnen, liegt
in der Natur der Sache und macht beides erst so recht interessant. Wir
erleben im Moment täglich genügend Beweise dafür.
Gewinnen möchten wir aber nicht nur in Spiel und Sport, sondern in vielen
Lebenssituationen. Deshalb sind wir nicht gut beraten, wenn wir
undifferenziert das Streben nach Erfolg und Siegen verurteilen. Und doch
zeigt uns ein Blick in jede Lebensgeschichte, dass sie bei niemandem eine
ungebrochene Erfolgs- und Gewinnergeschichte ist. Sie läuft oft nicht
geradlinig, wird oft durchkreuzt, ist geprägt von Rückschlägen, von
Misserfolgen und Scheitern.
Als Christen und Christinnen haben wir Jesu Lebensgeschichte als Beispiel
vor uns. Äusserlich gesehen war sie nicht die Geschichte eines Siegers. Sie
hatte zwar auch eine ausgesprochene Sonnenseite: Jesus durfte erleben, dass
seine Person und Botschaft Begeisterung auslösten. Aber sein Weg verlief von
Anfang bis zum Schluss im Schatten des Kreuzes. Schliesslich stiessen ihn
die damaligen Machthaber aus und schlugen ihn wie einen Verbrecher ans
Kreuz.
Soll unser Leben wirklich erfolgreich sein, soll es glücken, müssen wir auch
das Verlieren lernen. Und es bedarf anstrengender Arbeit, das Scheitern, die
Misserfolge in unser Leben zu integrieren. Ein Trost begleitet uns: Jesus
bleibt auf der Seite derer, die auf der Schattenseite des Lebens sind. Er
bleibt die Hoffnung aller, die scheitern und verlieren.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche