Weg-Wort vom 16. November 2006
Leben vor und nach dem Tod
Der bekannte Wiener Theologe P.M. Zulehner hat vor einiger Zeit in einem
Fernsehinterview gesagt: Früher haben die Menschen vierzig Jahre plus die
Ewigkeit gelebt. Heute leben sie nur noch 80 und mehr Jahre. Er meinte
damit: die Lebenserwartung der Menschen früherer Zeiten war gering, jedoch
lebten sie die kurze Zeit ihres irdischen Lebens mit der Erwartung auf ein
ewiges und glückliches Leben bei Gott.
Heute leben die Menschen länger, aber sie wagen kaum mehr einen Ausblick auf
das Leben nach dem Tod. Das Bewusstsein einer endgültigen Beheimatung des
Menschen im ewigen Leben bei Gott scheint unter heutigen Christen und
Christinnen schwach entwickelt. Die frühere Jenseitsvertröstung ist
weitgehend einer Vertröstung auf das Diesseits gewichen. Die neuzeitlichen
Christen haben immer mehr den Blick vom Himmel auf die Erde gelenkt, bis
dahin, dass sie den Blick zum Himmel überhaupt verloren haben.
Das Sterben in der Natur in diesen Novembertagen erinnert uns an unsere
eigene Endlichkeit. Wir sind nur Gast auf Erden. Unsere Lebenszeit ist
begrenzt. Auch wenn wir Momente intensiven Lebens, höchsten Glücks und
tiefster Erfüllung im Diesseits erleben, bleibt uns die Gewissheit, dass
dieses irdische Leben eine vorläufige Form der Existenz ist. Christliches
Hoffen blickt über den Tod hinaus. Es ist unlösbar mit dem Glauben an die
Auferstehung Jesu Christi verbunden und gründet wesentlich darin, dass wir
an Jesu Auferstehung teilhaben werden, auch wenn wir nicht wissen, wie das
sein wird.
Die Hoffnung auf das neue Leben, das über den Tod hinausreicht, wirft Licht
bereits auf unser jetziges Leben und vermag es zu verändern. Der Glaube an
ein Leben nach dem Tod kann uns zum Beispiel gelassener machen, er nimmt uns
die Hast, möglichst alles erlebt und gesehen haben zu müssen. Er schützt das
Leben und Zusammenleben der Menschen vor ständiger zerstörerischer
Überforderung. Denn der andere neben mir bekommt das Recht, ein begrenzter,
endlicher Mensch zu sein. Auch mir selber bringt dieser Glaube Entlastung:
Ich kann das Bruchstückhafte, Unvollkommene und Unvollendete meines Lebens
stehen lassen, weil Gott selber einmal meine Sehnsucht nach einem ganzen,
entgrenzten und heilen Leben erfüllen wird.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
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