Weg-Wort vom 28. Dezember 2007
Der glimmende Docht
Es gibt Situationen im Leben, da haben wir keine Lust mehr. Da reichts uns!
Da haben wir alles versucht. Und es hat doch nichts genützt. Wir stehen dann
vor der Frage, aufzugeben oder trotz allem dranzubleiben.
Da ist die zerrüttete Ehe, in der nur noch gestritten wird. Der
Arbeitnehmer, der wie ein Stück Ware behandelt wird. Die von ihren
Arbeitskolleginnen gemobbte Angestellte. Der Chronischkranke, der die
ständigen Schmerzen manchmal nicht mehr aushalten mag. Der Unternehmer, der
mit seinem kleinen Betrieb seit Jahren auf keinen grünen Zweig kommt ...
Beeindruckt hat mich die Frau, die von ihrer über zwanzigjährigen Ehe sagt,
sie sei ein ständiger Streit. Seit die Kinder ausgezogen sind, sei es nicht
mehr auszuhalten. Sie hätten alles versucht, auch eine Ehetherapie.
Eigentlich müsste sie aufgeben. Aber da sei noch ein winziger Funken Liebe
in ihr...
Diese Frau hat mich an ein Wort des Profeten Jesaja (42,3) erinnert, der vom
Bevollmächtigten Gottes sagt: Das geknickte Schilfrohr zerbricht er nicht,
den glimmenden Docht löscht er nicht aus.
Seither halte ich in jeder noch so verfahrenen Situation Ausschau nach dem
glimmenden Docht, bei mir selber wie auch bei anderen. Denn gemeinsam lässt
er sich leichter finden: beim Feuer, das einmal brannte; in der Vision, die
einst beflügelte; in der Liebe, die damals beseelte.
Es braucht gegenseitig viel Achtsamkeit und liebevollen Respekt, dem
glimmenden Docht den nötigen Raum und Schutz zu geben. In manchen
Situationen benötigt er zudem viel Zeit, Ruhe und angemessene Pflege.
Schliesslich braucht es ein grosses Einfühlungsvermögen, ihm im richtigen
Moment mit aller Sorgfalt und Liebe die Kraft einzuhauchen oder ihm schenken
zu lassen, die ihn nicht erlöschen sondern neu brennen und wachsen lässt.
Wir können dabei getrost auch dem vertrauen, der den glimmenden Docht nicht
auslöscht. Der mit seinem Geist und seiner Kraft mit uns neue Wege geht und
unser inneres Feuer lebendig erhält.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
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