Das Weg-Wort Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 3. Juni 2020
Kleine Katastrophe
Frühsommer. Die Jahreszeit fürs Heiraten: Herzige Kirchlein, schöne
Orgelmusik, würdige Worte, romantische Fotos! Oder etwa nicht?
Laut einer Untersuchung des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts
(SPI) haben sich 2015 von den zivilgetrauten Paaren bei den Reformierten
gerade noch 30% für eine kirchliche Heirat entschieden,
bei den KatholikInnen gar nur 23%. Ist das schlimm? Ich finde nein. Sagen
wir es doch offen: Diese Feiern sind in der Regel hoch inszeniert und mit
bemühter Romantik überladen.
Das weisse Hochzeitskleid, der Einzug in die Kirche, die Ave-Marias, der
Ringtausch für die Fotos und Videokameras, das möglichst von Rührungstränen
begleitete Eheversprechen
Jeder Moment dieses Rituals ist vordefiniert und wird mit künstlicher
Emotionalität aufgeladen. So aufgeladen, dass ich mich frage, ob echte
Gefühle wirklich noch Platz haben.
Oder erlebt man da einfach die Gefühle, die alle von einem erwarten?
Dabei: Alle, die mitmachen, wissen, dass Liebesbeziehungen nicht immer schön
sind, sondern auch widersprüchlich und überhaupt nichts Gesichertes.
Zurzeit werden zwei von fünf Ehen geschieden. Wenig Grund also, sie
künstlich zu überhöhen.
Und dabei wäre die christliche Tradition gerade eine Einladung zum
nüchternen Realismus. Ich habe nie verstanden, weshalb wir in der Kirche
andauernd betonen, der Mensch sei nicht perfekt,
habe das Gelingen seines Tuns nicht in seinen Händen und sei von Gott
angenommen, auch und gerade wenn er scheitert,
weshalb wir aber vom höchst zerbrechlichen Unternehmen Ehe erwarten, sie
müsse halten - möglichst ein Erwachsenenleben lang - und Scheidung immer
noch als kleine Katastrophe behandeln.
Wenn wir ernst nehmen, dass wir aus der Vergebung und mit dem stetigen Ja
Gottes zu Neuanfängen leben, müssten wir auch mit der Möglichkeit
eines Scheiterns unserer Liebesbeziehungen leben.
Was ich mir wünschen würde: Traurituale ohne all den Pomp, aber in einer
realistischen und ehrlichen Haltung und Sprache.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Foto: danielsfotowelt,
pixabay.com
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