Weg-Wort vom 14. Juli 2006
Unbezahlbar
Immer mehr Menschen beklagen sich über den ständig grösseren Arbeitsdruck in
den Betrieben. Stellen werden abgebaut und die Arbeit auf die verbliebenen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verteilt.
Die Rentabilitätsrechnungen nach der Kosten-Nutzen-Analyse werden laufend
verfeinert und erhöhen für den Einzelnen stetig den Druck zur
Effizienzsteigerung. Schwächen zu zeigen ist in dieser Situation riskant. Um
den eigenen Arbeitsplatz nicht zu gefährden, wird auf die Zähne gebissen und
versucht, Stress und Belastung irgendwie auszuhalten. Ein Grossteil der
Freizeit dient dann dazu, abzuschalten, nicht mehr an den Betrieb zu denken,
sich halbwegs zu entspannen und soweit zu erholen, dass man den nächsten Tag
oder die nächste Woche im Betrieb wieder einigermassen übersteht.
Der gut fünfzigjährige Mann einer von vielen musste sich dies alles
einmal von der Seele reden. Er hatte die Freude an der Arbeit schon längst
verloren. Eine Arbeit, die er früher so sehr liebte und die eigentlich
ohne diesen fast unerträglichen Druck noch immer seine liebste Tätigkeit
wäre. Die innere Kündigung gab ihm etwas Distanz. Sie half ihm, dies alles
halbwegs zu ertragen.
Und dann gestand er: Aber meine fünf Minuten, die lasse ich mir nicht
nehmen. Ohne sie würde ich es nicht aushalten. Sie sind unbezahlbar für
mich. Zwei- bis dreimal täglich während der Arbeit gönnt er sich diese
Zeit. Da atmet er tief durch. Spürt in sich hinein. Ist ganz bei sich.
Manchmal geht er dazu einige Schritte - an die frische Luft, an einen
ruhigen, ungestörten Ort. Diese Minuten gehören ihm, ihm ganz allein.
Manchmal träumt er dabei oder betrachtet die vorüberziehenden Wolken.
Manchmal betet er auch.
Vielleicht zahlt es sich auf Dauer aus, wieder vermehrt auf die
unbezahlbaren Momente zu setzen, für die Zukunft der Betriebe wie für jeden
Einzelnen. Gönnen wir uns selbst ab und zu solche unbezahlbaren fünf
Minuten mitten in unserem Alltag! Lassen wir uns von der Kraft und
Nachhaltigkeit der unbezahlbaren Momente unseres Lebens immer wieder neu
überraschen.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
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