Weg-Wort vom 13. November 2006
Gott geniessen
Geniesse das Leben! oder Geniesse den Abend! ist ein Wunsch, der oft zu
hören ist. Fun haben ist für viele zu einer wichtigen Lebensmaxime
geworden. Hauptsache es macht Spass! Daneben gibt es Menschen, die mit dem
Drohfinger auf jene zeigen, die so manches zu geniessen wagen: ein feines
Essen, ein Glas köstlichen Weines, eine Zigarette, eine Stunde Nichtstun.
Oder andere haben als Merksatz ins Leben miterhalten: nur wer viel leistet
und auf viel verzichtet ist etwas wert.
Wie ist das in der Religion? Besteht diese aus vielen Vorgaben und Regeln -
oder gibt es auch einen Raum des Geniessens?
Mystikerinnen und Mystiker des Mittelalters sprechen immer wieder von der
Minne zu Gott und vom Geniessen Gottes. Eine Praktik des Geniessens wird
in den Zisterzienserklöstern gelebt. Die Mönche pflegen neben der Handarbeit
und dem täglichen Gebet die geistliche Lesung. Sie lesen meist in den Gängen
des Klosters leise vor sich hin und horchen so die Sätze der Bibel auf die
Freisetzung der göttlichen Quelle ab. Die Texte werden wieder und wieder
gelesen. Dieses langsame Käuen und Verdauen wird zu einem süssen
Wiedererinnern, das einen innern Wohlgeruch entfaltet.
Von einer andern Art Gott zu geniessen, erzählt der Pfarrer von Ars.
Allmorgendlich sieht er einen Bauer, der vor der Arbeit in der Kirche kniet.
Dessen Nachbar, der ebenfalls auf dem Feld arbeitet, fällt das lange Fehlen
auf, und er stellt ihn zur Rede. Er fragt ihn: Was machst du so lange dort?
Der Bauer antwortet ihm: Ich schaue den lieben Gott an, und er schaut
mich an! Das ist alles.
Das ist alles. Und doch ist gerade dieses sich Anschauen Quelle grösster
Kraft und Beglückung für das Bestehen des Alltages.
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche