Weg-Wort vom 16. Juni 2008
Loslassen
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, -
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt
Rainer Maria Rilke
Glücklich sein dürfen oder leiden viel hat damit zu tun, ob wir loslassen
können. Loslassen fällt denen leichter, die in Gott und das Leben vertrauen.
Das macht gelassener.
Loslassen können befreit zu Neuem. Man muss sich dann nicht an die eigene
Vorstellung klammern wenn einem eine bessere begegnet. Wer eine neue
Einsicht gewinnt und sein Leben danach ausrichten wagt, befreit sich. Wie im
Gedicht der Engel, verkümmern auch Kinder, Ideale und Visionen, wenn zu sehr
an ihnen festhalten.
So ist es auch mit der Beziehung zu Gott. Wer ihm begegnet ist und meint ihn
dort und so wiederzufinden, wird meist enttäuscht. Denn wir verändern uns
mit jeder Erfahrung. Und weil wir darum die Welt etwas anders sehen
verändert sich auch Gott als das grosse Gegenüber. In unserer Seele wird es
eng wenn wir an einer Vorstellung festhalten, denn dann können wir Gott
woanders nicht sehen. Das macht unser Leben ärmer. Loslassen - wir alle
wissen es kommt der Tag, an dem wir loslassen müssen. Wer sich darin übt,
lernt leben und findet so näher zu Gott. Das Loslassen fällt dann leichter.
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche