Weg-Wort vom 22. April 2009
Das Einzigartige sehen
Wenn wir etwas wirklich verstehen wollen, müssen wir uns bewusst sein, dass
jede Vorstellung von der Wirklichkeit und jeder Begriff die Wirklichkeit
verzerrt und uns eher daran hindert sie zu sehen.
Es ist, wie wenn wir jemandem mit einem Eimer Wasser zeigen wollen, wie ein
Fluss fliesst. Sobald wir das Wasser mit dem Eimer schöpfen, fliesst es
nicht mehr. In dem Moment, wo wir Dinge in Begriffe fassen, hören sie auf zu
fliessen. Sie werden unbeweglich und statisch. Begriffe sind starr, die
Wirklichkeit aber ist dynamisch.
Wir sehen die Dinge in ihrer Einzigartigkeit erst, wenn wir sie wie mit den
Augen des Kindes betrachten. Es sieht das wunderbare, flauschige Etwas, das
da vor ihm herumhüpft. Wir sehen nur den Spatzen. Und wir sehen selten das
Einmalige, Wunderbare an diesem menschlichen Wesen, das uns gerade gegenüber
steht.
Für den indischen Philosophen und Theologen Anthony de Mello gibt es diese
Bewusstheit zu selten:
An diesem Mangel leidet die Welt, nicht an einem Mangel an Religion.
Religion soll Mangel an Bewusstheit und Erwachen beheben... Alle
Offenbarungen, wie göttlich sie auch sein mögen, können nie mehr sein als
ein Fingerzeig zum Mond. So wie wir im Orient sagen: ,Wenn der Weise auf den
Mond zeigt, sieht der Tor nur den Finger
Bewusstwerden, Bewusstwerden und noch einmal Bewusstwerden! Darin sind
Heilung, Wahrheit, Rettung: im Bewusstwerden sind Spiritualität, Wachstum,
Liebe: im Bewusstwerden geschieht das Erwachen.
Ich muss hier über Worte und Begriffe sprechen, denn ich muss Ihnen
erklären, warum wir, wenn wir einen Baum betrachten, ihn noch lange nicht
sehen. Wir denken, dass wir es tun, aber wir tun es nicht. Betrachten wir
einen Menschen, sehen wir ihn in Wirklichkeit nicht, wir meinen nur, wir
sehen ihn. Wir sehen nur das, was wir uns vorher eingeprägt haben. Wir haben
einen Eindruck und betrachten diesen Menschen mit diesem Eindruck. So machen
wir es mit beinahe allem.
Wenn Sie das verstehen, verstehen Sie auch, wie schön es ist, sich all
dessen bewusst zu sein, was Sie umgibt. Denn dort ist die Wirklichkeit.
Gott, was auch immer das ist, ist dort. Alles ist dort.
Der kleine Fisch im Ozean sagt: Entschuldigen Sie, ich suche den Ozean.
Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde? Man kann Mitleid mit ihm haben,
nicht wahr?
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorger und Seelsorgerinnen der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Beat Schlauri, Susanne Wey
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
www.bahnhofkirche.ch
info(a)bahnhofkirche.ch