Weg-Wort vom 29. März 2007
Einübung
Der spätere tschechische Staatspräsident, Vaclav Havel, war 1979 vom Prager
Stadtgericht zu viereinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Die
Zeit im Gefängnis nutzte er um Briefe an seine Frau Olga zu schreiben. Es
waren keine gewöhnlichen Briefe, eher kurze philosophische Betrachtungen.
Die Fragen, die Havel berührt, betreffen den Kern des Menschseins, vor allem
die Freiheit des Menschen.
In einem Brief stellt er ein Gedankenexperiment an. Zu später Stunde - so
seine Überlegung - steigt Havel in den zweiten Wagen einer Strassenbahn ein,
um eine Station weit zu fahren. Der Wagen ist menschenleer, nicht einmal ein
Schaffner ist da. Das Fahrgeld bezahlt man, indem man eine Krone in das
entsprechende Kästchen wirft. Der späte Fahrgast kann somit die Münze in das
Kästchen hineinwerfen, muss es aber keinesfalls. Havel überlegt: Werfe ich
die Krone hinein, wird es niemand bemerken. Bezahle ich den Fahrpreis nicht,
wird dies ebenfalls niemand erfahren. Und auch für die Gesamtbilanz der
Verkehrsbetriebe dürfte die Münze ohne Bedeutung sein. Was also soll ich
tun?
Havel kommt in Verlegenheit. Von innen heraus spürt er: Ich muss die Münze
ins Kästchen werfen. Er schreibt: Es ist nicht die Angst vor einer
eventuellen Bestra-fung, nicht einmal das Bedürfnis, jemanden durch die
Respektierung der Bürger-pflichten zu beeindrucken, denn niemand wird von
der Entscheidung erfahren. Was steht hinter dieser Verlegenheit? Es kommt
Havel vor, als ob ein verborgener Partner da wäre, der eine Stimme hat, die
sich an ihn wendet und der er bereit ist zu folgen.
Dieses Gedankenexperiment Havels rührt an Fundamente unseres Verhaltens im
Alltag. Jedem von uns stellen sich alltäglich kleine Versuchungen. Und
unsere Re-aktionen darauf bestimmen die entsprechende Färbung unseres Lebens
und letzt-lich auch der Gesellschaft. Im erzählten Beispiel geht es um die
Werte der Wahr-haftigkeit, der Ehrlichkeit, der Zuverlässigkeit, des
Verantwortungsbewusstseins. Es sind grosse Werte, die täglich in kleiner
Münze ausgezahlt werden. Wie Vaclav Ha-vel vermerkt, ist mein Fahrgeld für
die Bilanz der Verkehrsbetriebe ohne Belang. Doch die Einübung in die
Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit in grösseren Dingen fängt offensichtlich hier
an.
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