Weg-Wort vom 12. November 2012
Freude oder Ärger?
Vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Sind Sie auch eine so nette Person, die
schneller Ja wie Nein sagt? Wenn Sie es sind, dann kennen Sie diese
Geschichte oder eine ähnliche aus persönlicher Erfahrung.
Meine Frau und ich verbringen unsere Ferien regelmässig im Nahen Osten.
So auch dieses Jahr. Am Vorabend unserer Abreise vom Hotel am See Genezareth
hat uns ein Gast angesprochen, ob wir am andern Tag auch abreisen würden und
wohin denn? Mit dem Mietwagen nach Tel Aviv. Ob er mitkommen dürfe? Er
müsste nach Oriel, und seine Alternative war der Bus. So sagten wir Ja,
warum nicht? Es war schon fix abgemacht, als wir auf die Politik zu sprechen
kamen und er als Norweger aus tiefster Überzeugung mitteilte, dass es Gottes
Wille sei, dass weder Norwegen noch die Schweiz in der EU seien.
Ich konnte mich nur noch mit einem Zitat von Karl Barth aus der heiklen
Situation retten: Die Schweiz werde durch Gottes Vorsehung und menschliche
Verlegenheit (confusione) regiert. Unterdessen wurde uns auch klar, dass er
nach Ariel wollte, der grössten israelischen Siedler-Siedlung in der
Westbank. Jetzt bereute ich meine Zusage, einmal weil mein Glaube und meine
politische Meinung ganz weit weg von diesem Mann war, zum andern, weil mich
plötzlich die Einschränkung meiner persönlichen Freiheit in den Ferien zu
ärgern begann. Aber die Zusage war ausgesprochen.
Als wir in Tel Aviv angekommen waren, hat er uns noch gefragt, ob er nicht
einen Beitrag für die Reise geben dürfe. Nein, es ist schon gut. Wir haben
seine Adresse bekommen und auch eine Einladung zu ihm nach Hause, falls wir
je in Norwegen seien. Er ist dann weiter zum Busbahnhof, um den Bus nach
Ariel zu finden.
Ich blieb zurück und wusste nicht: Soll ich mich jetzt freuen, dass ich
einem Menschen auf dem Weg geholfen habe oder soll ich mich ärgern, dass ich
einem Menschen auf dem Weg geholfen habe?
Aus der Bergpredigt stammt der Satz: "Denn, wenn ihr die liebt, die euch
lieben, welchen Lohn könnt ihr da erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner?"
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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