Weg-Wort vom 5. Oktober 2007
Erinnerung Fluch oder Segen?
Der Mann war in der Schule über lange Zeit gehänselt und gefoppt worden. Das
hatte ihm sehr weh getan. Aber er hatte sich nicht wehren können, sich
deswegen geschämt und dadurch alles in sich hineingefressen. Erst als sein
Sohn dasselbe erlebte, brach alles in ihm wieder auf. Er wurde so wütend,
dass er sich die Kameraden seines Sohnes am liebsten einzeln vorgeknöpft
hätte.
Da war aber noch ein anderes, ein vorerst verborgenes Gefühl ein leiser
Ärger, dass sich sein Sohn nicht wehrte. Plötzlich erkannte er, dass Wut und
Ärger eigentlich ihm selbst galten, ja dass er sich im Grunde immer selber
verachtete, weil er sich damals alles gefallen liess. Immer wenn er daran
erinnert wurde, fühlte er sich schwach und kraftlos.
Diese unbewusste Verachtung seiner selbst war ihm wie ein Fluch geworden.
Sie hinderte ihn stets daran, zu sich zu stehen, ganz aus sich heraus zu
gehen. Er fühlte sich immer irgendwie gehemmt und wusste nicht warum.
Diese Erkenntnis war nun für ihn eine grosse Befreiung. Sein Sohn fühlte
sich von ihm auf einmal so gut verstanden, dass er anfing, über alle seine
Gefühle zu reden. Gemeinsam fanden sie Möglichkeiten, wie er sich gegenüber
seinen Kameraden verhalten konnte. Die Erfahrung des Vaters wurde zum Segen
für den Sohn.
Für viele Menschen ist die Erinnerung an frühere Zeiten belastet mit
Verletzungen und Schmerzen, mit Versagens- und Schuldgefühlen. Sie denken
darum lieber nicht daran und versuchen, diese Erinnerungen möglichst zu
verdrängen. Das aber kostet meistens viel Kraft, macht das Leben eher schwer
und behindert die Lebendigkeit.
Es kann darum hilfreich und heilend sein, über diese dunklen Erinnerungen zu
reden mit Menschen allerdings, die in der Lage sind, hinzuhören und zu
verstehen, bis wir uns selber besser verstehen und mit unserer
Lebensgeschichte annehmen können. Es ist zwar oftmals ein langwieriger
Prozess, Altes anzunehmen und dadurch loszulassen. Aber manche dunkle
Erinnerung kann uns so zum Segen gereichen.
Segensreich und kraftvoll aber sind auch Erinnerungen an Momente des Glücks,
an Situationen, wo wir Erfüllung und Liebe erlebt haben.
Vielleicht sollten wir uns gegenseitig vermehrt davon erzählen nicht um in
der Erinnerung zu schwelgen, sondern um Erfüllung und Glück zu reflektieren
und für die Gegenwart fruchtbar zu machen.
Solche Erinnerung segnet uns noch einmal in der Gegenwart und befähigt
uns, gestärkt und lebendig im Hier und Jetzt zu sein.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
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