Das Weg-Wort – Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich
Weg-Wort vom 14. Mai 2021
Durchgang
Da ist sie nun, diese Gruppe von Menschen, dieser zusammengewürfelte Haufen. Einst liessen
sie sich begeistern, nichts schien ihnen unmöglich. Dann kam der Schock, eine
Erschütterung bis ins Mark, und damit die Ernüchterung. Das Feuer, die Klarheit und
Orientierung sind mit einem Mal weggewischt. Die charismatische Führerfigur, der sie voll
und ganz vertraut haben, ist definitiv verschwunden. Ein Gemisch von Ungewissheit, Trauer
und Angst hat die Gruppe gepackt, sie ziehen sich ins Schneckenhaus zurück und verschanzen
sich hinter Mauern und verschlossenen Türen.
Es ist vorbei, sagen die einen. Es macht überhaupt keinen Sinn mehr. Eine Handvoll
ungebildeter Leute wie wir kann eh nichts ausrichten. Also besser alles aufgeben, die
ganze Sache vergessen, und wenn sich die Verzweiflung mit der Zeit abgeschwächt hat,
irgendwo ein unauffälliges Dasein fristen.
Besser alles aufgeben? Die Sache vergessen? Halt, ruft eine. Brannte nicht unser Herz
damals, als wir von Ort zu Ort gezogen sind mit einer neuen Botschaft, und Menschen sich
bewegen liessen anders zu leben? Sie erzählt Erlebnisse und Erfahrungen. Einer nach der
anderen schliesst sich an. Sie berichten einander auch ihre Ängste und Unsicherheiten,
erinnern an ihre Zweifel, ihren Streit, ihre Verleugnung. Tränen dürfen fliessen,
Verzeihung wird ausgesprochen. Was ist wirklich wichtig? Wofür wollen wir leben? Die Nebel
lichten sich, Klarheit, Vertrauen und das Feuer kehren zurück.
So in der Art stelle ich mir die neun Tage zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten vor,
eine nicht angenehme, aber kraftvolle Zeit des Durchgangs, ebenso wie die zwischen
Karfreitag und Ostern.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Bild von Bhikku Amitha auf Pixabay
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Jürgen Rotner
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