Das Weg-Wort Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 14. Juli 2020
Erotik in der Bibel
Das Hohelied der Liebe im Ersten Testament ist eine wunderschöne Sammlung
erotisch-poetischer Liebesgesänge. Genau das durfte es allerdings während
etwa 2000 Jahren nicht sein! Es wurde sowohl im Judentum wie im Christentum
allegorisch gedeutet. Die zwei Liebenden, die sich da im Wechsel besingen
und von ihrer Liebe schwärmen, wurden als Sinnbilder verstanden für die
Liebe Gottes zum Volk Israel oder die Liebe Christi zur Gemeinde der
Glaubenden.
Das hatte sicher damit zu tun, dass das Lied dem biblischen König Salomo
zugeschrieben wurde. Von ihm heisst es im ersten Buch der Könige, er habe
3000 Weisheitssprüche sowie 1005 Lieder gedichtet (1. Kön 5,12). Nahliegend
also, dass man in Israel auch nicht religiöse Texte diesem König zuschrieb.
Und wahrscheinlich hat das Hohelied auch nur deshalb den Weg in die Bibel
gefunden. Spätestens ums Jahr 100 jedenfalls galt es dem Judentum als
heilige Schrift. Aber offenbar war die Sinnlichkeit dieser Dichtung zu
bedrohlich, als dass man sie einfach hätte stehenlassen können. Man musste
sie entfleischlichen, zu einem spirituell-religiösen Gottesverhältnis
stilisieren.
Ich möchte Sie einladen, das Hohelied als das zu nehmen, was es ist und es
zu geniessen:
«Komm, mein Geliebter, lass uns hinausgehen aufs Feld, bei den
Hennasträuchern die Nacht verbringen. Früh wollen wir uns aufmachen zu den
Weinbergen, wollen sehen, ob der Weinstock getrieben hat, die Knospen
aufgesprungen, die Granatbäume erblüht sind. Dort will ich dir meine Liebe
schenken! Die Liebesäpfel duften, und an unseren Türen gibt es alle
köstlichen Früchte, neue wie alte. Dir habe ich sie aufbewahrt, mein
Geliebter.» (Hohelied 7, 12-14)
Zurecht erhalten Sinnlichkeit und Sexualität hier einen Platz in der Bibel.
Denn was so sehr zum Menschen gehört, gehört auch ins Buch der Liebe Gottes
zum Menschen.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Abbildung: Egon Schiele, Die Umarmung (Liebespaar II), 1917, Österreichische
Galerie Belvedere, Wien. Quelle:
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