Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 13. Juni 2019
Wie viel zählt eine Frau?
Eine amerikanische jüdische Ärztin* erzählt von ihrem gläubigen Grossvater, den sie sehr
liebte und mit dem sie als Kind viele Gespräche über die Lehren und Prinzipien des
Judentums hatte. Nur einmal, so erinnert sie sich, waren sie verschiedener Meinung. Es
ging um das Konzept der Minyan. Während jedermann zu jeder Zeit für sich beten kann,
müssen wenigstens zehn Männer anwesend sein, bevor ein offizieller jüdischer Gottesdienst
abgehalten werden kann.
„Warum das, Opa?“, fragte das kleine Mädchen erstaunt. Geduldig erklärte der Grossvater:
„Gott ist anwesend in jedem Raum, wo immer zehn Männer im Namen Gottes versammelt sind.“
Die Kleine war von diesem Gedanken fasziniert. Der Grossvater erzählte, dieses Gebot sei
so wichtig, dass man öfters auf die Strasse hinausgegangen sei um einen jüdischen Mann zu
suchen, damit der Kreis der 10 Männer für einen Gottesdienst vervollständigt werden
konnte.
„Aber warum nur Männer?“, fragte die Enkelin und „Ist Gott nicht anwesend, wenn zehn
Frauen in seinem Namen versammelt sind?“ – „ Das Gesetz war immer so!“, meinte der
Grossvater. Sie aber konterte in ihrer kindlichen Logik: „Wenn etwas alt ist, muss es dann
wahr sein?“ – „Gewiss nicht!“, war seine Reaktion. „Gut, dann denke ich, dass Gott auch
dann im Raum anwesend ist, wenn zehn Frauen versammelt sind“, sagte sie geradeheraus. Er
nickte und meinte: „Aber das ist nicht das, was das Gesetz sagt“.
Nie vorher war die Enkelin mit ihrem Opa uneins und so machte ihr dieses Gespräch sehr zu
schaffen. Sie redeten nicht mehr darüber und sie dachte, der Grossvater hätte die
Diskussion längst vergessen.
Später, als der Grossvater sterbenskrank war, durfte das siebenjährige Mädchen von Zeit zu
Zeit den geliebten Grossvater besuchen. Stolz auf ihre Lesekünste las die Enkelin dem
Grossvater etwas vor oder sie sassen schweigend beieinander und sie hielt die Hand des
Grossvaters, während er schlief. Einmal öffnete er nach einem solchen Nickerchen die
Augen, sah sie lange liebevoll an und sagte: „Du bist ganz allein schon eine Minya,
Neshume-le.“
Frei übersetzt heisst das: „Du giltst vor Gott wie 10 Männer, geliebtes kleines Mädchen.“
*Rachel Naomi Remen, Aus Liebe zum Leben. Geschichten, die der Seele gut tun
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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