Weg-Wort vom 27. Januar 2012
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
Ganz aufgeregt setzt sich der Mann auf den Stuhl in meinem Gesprächszimmer. Und sofort
beginnt er zu sprechen: "Jetzt lese ich heute Morgen in der Bibel das Gleichnis von
den Arbeitern im Weinberg! (Mt 20) Das halte ich nicht aus, dass alle den gleichen Lohn
bekommen sollen. Diejenigen, die einen ganzen Tag im Weinberg gearbeitet haben, und auch
diejenigen, die nur ein Stunde gearbeitet haben! Das kann Gott nicht machen!"
Die Aussicht, dass es sich wenigstens im Himmel auszahlt, wenn wir ordentlich sind und uns
Mühe geben und nichts geschenkt haben wollen - an diese Aussicht haben wir uns doch immer
gehalten? Und jetzt auf einmal fangen wir an, unsere kleinen menschlichen Taschenrechner
heraus zu kramen und in aller Stille nachzurechnen? Und plötzlich erscheint die Treue, mit
der wir im Glauben stehen, doch nicht mehr "allein aus Gnaden" zu kommen, wie
wir es immer bekannt und gesungen haben. Zumindest ein Stück davon ist doch wohl auch als
unser Verdienst anzusehen! Und dass wir bisher die Gebote Gottes gern als Geländer benutzt
haben, um uns in dieser komplizierten Welt zurechtzufinden, will uns auch nicht mehr in
den Kopf. Eigentlich scheint es jetzt doch als eine schwere Last, sich eisern auf dem Weg
des Rechts zu halten?
Dabei macht der Herr des Weinberges, Gott, nichts Besonderes! Er zahlt so viel, wie eine
Familie damals für einen Tag zum Leben brauchte, quasi den Mindestlohn. Und den zahlt er
allen. Ein einzelner Arbeitgeber kann so in unserer Zeit nicht handeln! Aber eine
Gesellschaft muss dazu fähig sein, dafür zu sorgen, dass niemand weniger verdient, als er
für sein tägliches Brot und Leben braucht.
Was kann der Mann bei mir tun? Zumindest dies: Sich die Spannung klarmachen zwischen dem
Gefühl: Ich will nichts geschenkt haben! und dem Wissen: Ich lebe davon, dass ich täglich
mehr Gutes empfange, als ich verdiene! Daraus erwächst die Bereitschaft, für Gerechtigkeit
einzutreten, wo alle nur barmherzig sein wollen, und für Barmherzigkeit, wo alle nur der
Gerechtigkeit das Wort reden.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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