Weg-Wort vom 24. Juli 2008
Ein nächtliches Gespräch
Im Neuen Testament gibt es die Geschichte von einem Mann, der eine tiefe
Daseinsunruhe und not in sich verspürte. Diese liess ihn einen Weg durch
die Nacht zu Jesus nehmen. Es ist die Erzählung von Nikodemus, einem
vornehmen Mann und einflussreichen Juden.
Er ist ein Suchender, hat einen ausgeprägten Sinn für Religion, für die
Wahrheit. Es zieht ihn hin zu Jesus, aber in der Verschwiegenheit und
Heimlichkeit der Nacht. Im Schutz der Nacht ist dieser Mann unterwegs, um
Jesus zu treffen, am Tage lässt er sich seine Sympathie für Jesus nicht
anmerken.
Nikodemus ist ein merkwürdig gespaltener Mensch. Er sucht nach dem Leben,
macht sich sogar auf, es zu entdecken und empfindet gleichzeitig eine
lähmende Angst. Jene Angst nämlich, die ihm sagt, nicht derselbe bleiben zu
können, der er ist, wenn er sich auf Jesu Botschaft einlässt.
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard sagt über ihn: Nikodemus war ein
Bewunderer; die Gefahr der Wirklichkeit, das war ihm zuviel, für seine
Person wünschte er sich aus dem Spiele zu halten... Man sieht hier, was ein
Bewunderer ist; denn einer, der nachfolgt, ist Nikodemus nicht geworden. Es
ist, als ob Nikodemus zu Jesus sagen möchte: Sofern wir uns darauf einigen
können, will ich im ewigen Leben deine Lehre annehmen aber hier in dieser
Welt, nein, das kann ich nicht. Könntest du nicht mit mir eine Ausnahme
machen, könnte es nicht ausreichend sein, dass ich zwischendurch einmal zu
dir käme bei der Nacht aber am lichten Tage... kenne ich dich nicht.
Diese originelle Deutung der Nikodemus-Gestalt spricht uns an, weil wir
vielleicht unser eigenes Verhalten darin sehen. Möchten nicht auch wir
Menschen des Aufbruchs sein, sind aber zugleich von Kräften der Beharrung
und der Unbeweglichkeit geprägt? Wir möchten in Bewegung kommen, aber ohne
den gewohnten Platz verlassen zu müssen.
Diese Deutung der Nikodemus-Gestalt möchte uns aber auch provozieren, uns
immer neu von Gott ansprechen zu lassen, unsere Begrenzungen zu
überschreiten und uns etwas zuzutrauen. Jesus möchte uns nicht als fromme
Bewunderer haben, sondern als Menschen, die ihren Alltag vom Glauben her
gestalten.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche