Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 3. Februar 2021
Er
Ein frommer Knabe muss das sein, den wir hier zum Gebet knien sehen. Ganz konzentriert
scheint er, in seiner Zwiesprache mit Gott.
Wer aber um ihn herum geht und ihn von vorne betrachtet, bekommt einen Schock. Er oder sie
blickt in das Gesicht von Adolf Hitler.
Der italienische Künstler Maurizio Cattelan hat die kniende Plastik 2001 geschaffen. Sie
heisst <Him> (<Er>) und ist eine maximale Provokation. Cattelan kombiniert mit
dem betenden Hitler den Inbegriff menschlicher Vernichtungswut mit einer der stärksten
Gesten gläubiger Demut und Gottesergebenheit. Die Spannung in diesem Werk ist schier nicht
auszuhalten.
Solche Kunst - das geht doch nicht! Und schon gar nicht an diesem Ort. Wir blicken nämlich
durch einen Hofeingang des ehemaligen Warschauer Ghettos, wo jüdische Menschen im Zweiten
Weltkrieg zusammengepfercht leben mussten. Unzählige von ihnen wurden von hier in die
Vernichtungslager gebracht.
Doch. Es geht. Es ist Aufgabe der Kunst, Sehgewohnheiten infrage zu stellen, festgefahrene
Sichtweisen durchzuschütteln. Das geschieht für mich in diesem Werk.
Plötzlich frage ich mich nämlich: Wie war Hitler eigentlich als Bub, im katholischen
Österreich? Ein frommer Beter? Und wie wird aus einem Kind ein Schreckensherrscher?
Oder: Wie leer können religiöse Gesten und Formeln sein, wenn sie nicht mit Inhalt und
Haltung verbunden sind?
Oder: 1970 ist der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal im Warschauer
Ghetto genauso niedergekniet. Anstelle von Hitler? Kann man stellvertretend Reue zeigen?
Und Vergebung erfahren?
Kann man Hitler vergeben? Gilt Gottes Liebe und Vergebung auch für Diktatoren?
Oder: Wieviel Liebe trauen wir Gott eigentlich zu?
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Abbildung: Maurizio Cattelan, Him, 2001, Warschauer Ghetto, 2013, Warschau. Foto: Maciej
Szczepańczyk, Wikimedia Commons
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