Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 16. Juni 2020
Die fünf Blinden
Der Fürst eines indischen Reichs hatte die philosophischen Debatten und die
ewigen Rechthabereien seiner Berater satt und überlegte sich, was er dagegen
tun könnte. Eines Tages, als bei einem Empfang alle seine Ratgeber zugegen
waren, liess er einen Elefanten in den Saal führen. Und er wies seine Diener
an: Geht auf die Strassen vor dem Palast und bringt ein paar blinde Bettler
hierher. Sie gingen hinaus und kamen mit fünf Männern zurück, die von
Geburt an ohne Augenlicht waren.
Der Herrscher sprach zu den Männern: Lasst euch zu dem grossen Tier in der
Mitte des Saales führen, betastet es und beschreibt mir, wie es aussieht.
Die blinden Männer gehorchten und bald begann der erste zu sprechen: Mein
Herr, das Tier ist wie eine grosse runzlige Schlange. Er hatte den Rüssel
zu fassen bekommen. Nein, rief der zweite, es ist wie ein dicker
Baumstamm. Dabei umfasste er ein Bein des Elefanten. Der dritte, der das
Ohr berührte, meinte: Ihr habt keine Ahnung, es ist wie ein riesiges
Palmblatt. Ein Pinsel, ein Pinsel schrie der vierte, der den Schwanz in
der Hand hielt. Der fünfte betastete den Bauch und sagte: O Fürst, es ist
eindeutig wie eine grosse gewölbte Wand.
Die Gäste lachten über die Bettler, besonders die Berater des Fürsten
spotteten über sie. Der Fürst sagte zu ihnen: Seid still, diese Männer sind
von Geburt an blind und beschrieben, was sie ertasteten. Ihr aber glaubt,
alles zu sehen und immer Recht zu haben. Ihr seid noch blinder als diese
Blinden. Da schwiegen die Ratgeber und schauten einander betroffen an.
Wenn wir uns mit unseren verschiedenen Perspektiven anerkennen, können wir
der Wahrheit näher kommen, als wenn jeder auf seiner Meinung beharrt.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Bild von Sasin Tipchai auf Pixabay
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