Weg-Wort vom 29. September 2008
Sehender Glaube
Sehen können ist etwas Wichtiges im Leben. Das merken wir spätestens dann,
wenn wir eines Tages die Zeitung nicht mehr recht lesen können, wenn die
Verkehrssignale verschwimmen oder wenn sich eine Nachbarin beklagt, wir
hätten sie gestern unterwegs nicht gegrüsst.
Dass Sehen können etwas ganz Wichtiges im Leben ist, zeigt uns auch die
Erzählung aus dem Leben Jesu, wie er einen blinden Bettler wieder sehend
macht. Der Bettler ist blind. Er ist sich dessen bewusst, und er leidet wohl
auch darunter. Wie er hört, dass Jesus vorüber geht, ergreift ihn eine
Sehnsucht und er beginnt laut zu schreien: Jesus Sohn Gottes, erbarme dich
meiner! Jesus bleibt stehen, ruft ihn vom Strassenrand her zu sich und
fragt ihn: Was soll ich für dich tun? Dieses Angesprochen-Werden Jesu
weckt in ihm Vertrauen, und er wagt seine tiefste Bitte zu formulieren: Ich
möchte wieder sehen können! Jesus sagt zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich
geheilt! Sofort kann er wieder sehen und folgt Jesus auf seinem Weg.
Bei dieser Geschichte geht es also nicht einfach um eine Wundergeschichte
oder um körperliche Heilung, so wichtig diese auch ist. Im Zentrum steht der
Glaube des Bettlers an Jesus Christus. Und so geht es auch um unseren
Glauben. Der blinde Bettler glaubt, dass Jesus ihm helfen kann. Er geht aus
der Begegnung als Sehender heraus. Ihm gehen die Augen auf. Er gewinnt
einen neuen Blick für das Wesentliche im Leben und kann Jesus nachfolgen.
Daran wird deutlich: Der Glaube schärft den Blick und macht Menschen sehend.
Ein Theologe nennt dies eine Mystik der offenen Augen. Er will damit
sagen: Die Begegnung mit Christus und die Gotteserfahrung sind nicht
Selbstzweck. Es geht nicht nur darum, sich selber wahrzunehmen, nur nach
innen zu schauen, sondern auch nach aussen. Die Mystik der offenen Augen ist
sensibel für die Realitäten der andern, für die Leidenden, Entrechteten und
an den Rand Gedrängten.
Darum sind die Kriterium für unseren Glauben: Macht er uns sehend? Haben wir
stärkere Augen und ein tieferes Augenlicht für das Wesentliche des Lebens?
Macht er uns sehend für die Not der Menschen um uns, für das Gebot der
Stunde, für den Anruf Gottes im Alltag unseres Lebens?
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche