Weg-Wort vom 18. Januar 2010
Zivilcourage
Der Mann beschimpfte die Frau mit den unflätigsten Worten. Sie duckte sich
ängstlich vor der Gewalt seiner Stimme. Er schrie noch lauter und stellte
sich drohend vor sie hin. Ihre Augen blickten hilfesuchend um sich. Die
Menschen im Bahnhof waren stehen geblieben und schauten dem Geschehen
verständnislos und neugierig zu. Doch niemand kam ihr zu Hilfe. Einige
schüttelten den Kopf und gingen weiter.
Es hätte viel Mut gebraucht, dieser Frau helfend beizustehen. In einer
Umfrage gab nur ein Drittel der Befragten an, in einer ähnlichen Situation
eingegriffen zu haben. Die meisten würden zwar gerne helfen, fürchteten sich
aber vor den allenfalls damit verbundenen Risiken und Gefahren: wie zum
Beispiel vor dem unangenehmen Gefühl, den Blicken der Umstehenden ausgesetzt
zu sein, oder selbst verbal oder tätlich angegriffen zu werden. Zudem
wüssten sie nicht, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten
sollten.
In den verschiedensten Bereichen des täglichen Lebens können wir Gewalt und
Diskriminierung beobachten: Mobbing am Arbeitsplatz, Fremdenfeindlichkeit,
Stammtischparolen, Pöbeleien und Handgreiflichkeiten in der Öffentlichkeit,
sexuelle Belästigung, Schikanen unter Schülerinnen und Schülern, Gewalt in
der Familie
Das Böse braucht das Schweigen der Mehrheit, sagte einst der ehemalige
UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Darum: Handeln statt wegsehen!
Heldentaten allerdings braucht es nicht. Denn Zivilcourage beginnt stets
schon im Kleinen, wie zum Beispiel: eine erstaunte Nachfrage auf eine
abschätzige Bemerkung, ein hörbarer Protest auf eine diskriminierende
Aussage, ein witziger Spruch auf eine dumme Stammtischparole, ein
freundliches Wort zu einer unwürdig beschimpften Person...
Wir können Zivilcourage lernen mit Gesprächen im Freundes- und
Familienkreis oder auch in entsprechenden Kursen. Lernen können wir auch von
Jesus: Wenn er die Händler aus dem Tempel vertreibt. Wenn ihm der Mensch
mehr wert ist als das Sabbatgebot. Wenn er die falsche von der wahren
Frömmigkeit unterscheidet. Wenn er sich den Armen und Ausgestossenen
zuwendet
Erst wenn Menschen vermehrt nicht weghören, nicht wegsehen und nicht
weglaufen sondern sich einmischen, wenn jemand unwürdig oder ungerecht
behandelt wird, entsteht die Basis für ein respektvolles und friedfertiges
Zusammenleben. Jeder Akt von Zivilcourage stärkt die ethischen Grundwerte
unserer Gesellschaft.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
© Bahnhofkirche. Hauptbahnhof Zürich
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