Weg-Wort vom 15. Juni 2010
Wurzeln und Flügel
Kurz nach seiner Papstwahl im Jahr 1958 sagte Johannes XXIII. die
bemerkenswerten Worte: Nun geht nach Hause und streichelt eure Kinder!
Mit dieser Äusserung richtete er eine wichtige Botschaft an die Menschen.
Was aber genau wollte er damit sagen?
Ausgerechnet beim Wischen der Treppe kam mir dieser Satz in den Sinn. In
einer Ecke lag nämlich eine kleine, zusammengerollte Raupe. Vorsichtig trug
ich sie nach draussen und setzte sie ins Gras. Vielleicht verpuppte sich die
Raupe ja, entwickelte sich in ihrem Kokon und entpuppte sich dann eines
Tages zu einem bunten Schmetterling. Im Geiste sah ich ihn schon
davonfliegen.
Meine Gedanken schweiften weiter zu meinem Sohn. Er hat seine Zelte an
seinem bisherigen Wohnort wieder einmal abgebrochen, ist aufgebrochen zu
neuen Ufern. Ich werde ihn in nächster Zukunft wohl noch weniger sehen
können als bisher.
Da tut mir die Gewissheit gut, dass die Nähe und Geborgenheit, welche er
daheim spüren und erleben durfte, ihm einen Vorrat an Liebe für ein ganzes
Leben schenken werden. Trotzdem fällt mir das Loslassen nicht leicht. Es ist
für mich immer wieder ein Einüben ins Vertrauen.
So vertraue ich darauf, dass da eine grössere Kraft ist, die lenkt, nämlich
Gott. Ich vertraue darauf, dass das, was ich als Mutter zu vermitteln
versuchte, als Samen hängen bleibt und dass die Saat einmal aufgeht.
Das Vertrauen hilft mir, Ja zu sagen zu Veränderung und Entwicklung. So
gelingt es mir immer besser loszulassen.
Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln. Wenn sie gross sind, gib
ihnen Flügel.
Diese Worte von Khalil Gibran lagen, aufgeschrieben auf ein Stück Papier,
jahrelang auf meinem Schreibtisch. Sie begleiten mich bis heute.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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