Weg-Wort vom 27. April 2009
Ich erlaube mir, unvollkommen zu sein
Die Plakatsäulen sind voll von coolen Menschen, die jung und schön sind,
die immer lächeln, eine perfekte Figur haben und scheinbar wirklich
glücklich sind. Sie prägen ganz subtil unser Menschenbild, obwohl wir alle
wissen, dass uns da eine künstliche Welt gezeigt wird, in der es keine
Brüche und Schattenseiten geben soll.
Auch spirituelle Menschen sind in der Gefahr, sich mit hohen Idealen zu
überfordern. Unsere Sehnsucht nach Licht, nach Himmel, nach Ruhe und nach
Ganzsein ist gross. Sie soll uns auch nicht genommen werden. Wir brauchen
mehr denn je Idealistinnen und Idealisten, Menschen mit Visionen.
Zu meiner Lebensvision gehört eine Spiritualität der Unvollkommenheit, ein
ehrliches Eingestehen von Brüchigkeit und Bedürftigkeit, die ich auch zum
Ausdruck bringen darf. Mir wird warm ums Herz, wenn Frauen und Männer ganz
bei sich sind, wenn sie authentisch werden, indem sie ihre Trauer und Wut,
ihre Lebensfreude und Begeisterung ausdrücken.
Da ereignet sich intensivstes Leben. Da entsteht eine beziehungsreiche Nähe
zum wirklichen Menschsein, das immer unvollkommen bleibt. Welch ein Stress,
wenn ich mich auch noch selbst erlösen müsste!
Ich darf darauf vertrauen, dass ich gehalten bin in meiner
Widersprüchlichkeit. Ich darf meine Stärke entfalten im ehrlichen
Eingestehen meiner Zweifel, meiner Unsicherheit, meiner Widersprüchlichkeit.
Die Ideologie eines perfekten Menschen ist fatal - sie endet oft tödlich.
Denn sie grenzt all jene aus, die nicht genügen, die auf der Strecke
bleiben.
Wir brauchen eine neue Spiritualität, die uns wirklich Mensch werden lässt,
mit unserer Lebenslust und unseren Grenzen und Verletzlichkeiten. Da
eröffnet sich uns die Spur zum wahren Glück, zum Geben und Nehmen, zum
Lachen und Weinen.
Befreiend die Einsicht
scheitern zu dürfen
unvollkommen zu bleiben
als hohes Ideal
echter Menschwerdung
Beglückend die Grundhaltung
an Brüchen wachsen zu können
aus Fehlern lernen zu dürfen
als Weg zur Toleranz
Bewegend der Zuspruch
niemals perfekt sein zu müssen
immer werden zu können
als Versöhnung mit dem Leben.
Pierre Stutz
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorger und Seelsorgerinnen der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Beat Schlauri, Susanne Wey
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