Weg-Wort vom 7. Oktober 2008
Wanderer zwischen zwei Welten
Zu den alltäglichsten Dingen unseres alltäglichen Alltags gehört das Gehen.
Man denkt nur daran, wenn man nicht gehen kann, sondern eingesperrt oder
gelähmt ist. Dann empfindet man das Gehen-Können plötzlich als Gnade und als
Wunder...
Wir erleben uns selbst im Wandeln als die sich selbst Wandelnden, als die
Suchenden, die erst noch ankommen müssen. Wir erfahren, dass wir die
Wanderer zu einem Ziel, aber nicht die ins bloss Leere Schweifenden sein
wollen. Wir empfinden uns nochmals im Gang in das schwere Unvermeidliche als
die Freien, wenn wir nur selbst diesem Auferlegten noch entgegengehen
dürfen.
Wir sprechen von einem Lebenswandel, und die erste Bezeichnung der Christen
war die der Leute vom Wege (Apg 9,2) ...
Wir reden vom Gang der Ereignisse, vom guten Ausgang eines Unternehmens,
vom Zugang zum Verständnis, von verlogenem Hintergehen eines Menschen,
vom Geschehen als einem Vorgang, vom Wechsel als einem Übergang, vom
Ende als einem Untergang; wir sehen das Werden als einen Aufstieg, unser
Leben als eine Pilgerschaft, die Geschichte als einen Fortschritt; wir
halten etwas Verständliches für eingängig, einen Entschluss für einen
Schritt...
Schon diese ganz kleinen und wenigen Hinweise zeigen, wie sehr wir unser
ganzes Leben immer wieder interpretieren am Leitfaden der ganz
ursprünglichen Erfahrung unseres alltäglichen Gehens.
Wir gehen, und wir sagen durch dieses ganz physiologische Geschehen allein
schon, dass wir hier keine bleibende Stätte haben, dass wir auf dem Weg
sind, dass wir erst noch wirklich ankommen müssen, noch das Ziel suchen und
wirklich Pilger sind, Wanderer zwischen zwei Welten, Menschen im Übergang,
bewegt und sich bewegend, die auferlegte Bewegung steuernd und in der
geplanten Bewegung erfahrend, dass man nicht immer dort ankommt, wohin der
Gang geplant war ...
Wir gehen, wir müssen suchen. Aber das Letzte und Eigentliche kommt uns
entgegen, sucht uns, freilich nur, wenn wir gehen, wenn wir entgegengehen.
Und wenn wir gefunden haben werden, weil wir gefunden wurden, werden wir
erfahren, dass unser Entgegengehen selbst schon getragen war (Gnade nennt
man dieses Getragensein) von der Kraft der Bewegung, die auf uns zukommt,
von der Bewegung Gottes zu uns.
Karl Rahner
Mit freundlichen Grüssen Ihre
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