Weg-Wort vom 5. Juni 2008
Den Weg zur Quelle neu aufschliessen
Vom Dichter Theodor Storm stammt das Märchen Die Regentrude. Darin erzählt
er, dass die Regentrude eingeschlafen sei. Diese Situation nützt ihr
Gegenspieler, der Feuermann, und streut Glutflocken über das Land, so dass
das Vieh verdurstet und die Saat verdorrt. In dieser schwierigen Situation
wird das Mädchen Maren geschickt, den Brunnen wieder aufzuschliessen. Ihm
gelingt es, in das Reich der Regentrude hinabzusteigen und die Regentrude an
ihre Pflicht zu erinnern. Das Mädchen Maren kann auch dem Feuermann seine
todbringende Macht entreissen. Am Ende des Märchens können die Quellen
wieder fliessen und das Land tränken.
Dieses Märchen steckt voller Symbole, die Wahrheiten unseres Lebens
darstellen. Da ist vor allem die Symbolik des Wassers. Wasser fliesst, ist
in Bewegung, verändert die Gestalt. Wo lebendiges Wasser fehlt, vertrocknet
das Leben und erstarrt die Lebenskraft. Wasser ist ein beliebtes Symbol, um
auch innere, geistliche Vorgänge zu veranschaulichen.
Unsere Zeit ist gekennzeichnet von einem neuen spirituellen Aufbruch. Der
Geist des Industriezeitalters ist an eine Grenze geraten. Seine Leitwerte
wie Rationalität, Beherrschung der Natur, Machbarkeit, Effektivität,
Leistung, Wachstum, Beschleunigung, Fortschritt, ließen den Menschen
spirituell verarmen und austrocknen.
Das erkennen heute viele Menschen. Sie machen sich auf den Weg zum Brunnen
in der Tiefe ihres Inneren, um ihn wieder aufzuschliessen. Viele begeben
sich auf Reisen, gehen Pilgerwege, nehmen verschiedenste religiöse Angebote
wahr. Für viele ist nicht klar, wo die Reise hinführt. Aber manche spüren
auch, dass Spiritualität mehr ist als die postmoderne Spiritualität der
Wellnessoasen. Sie suchen nach Quellen, die aus der Vergangenheit schöpfen,
aber gültig bleiben. Ihre Gottessehnsucht treibt sie an Orte, die ein
jahrhundertealtes spirituelles Gedächtnis tradieren, das Tiefgang hat und
authentisch ist. Dazu gehören auch die Klöster.
Eine der wichtigen Aufgaben für uns Menschen heute ist es, zu den Wassern
der Tiefe zu gelangen, vergessene Schätze wieder zu entdecken: die Quellen
der Selbsterkenntnis und des Wissens um die Geheimnisse der Welt.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
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Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche