Das Weg-Wort Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 17. Juli 2020
Freie Liebe
Das Weg-Wort vom 14. Juli handelte vom Hohelied der Liebe. Es beschrieb, wie
diese Sammlung erotischer Liebesgesänge in die Bibel gelangte, weil sie dem
König Salomo zugeschrieben wurde. Dies allerdings zum Preis, dass der Inhalt
nur noch sinnbildlich gedeutet wurde: Anstatt das Lied als Dichtung zu
verstehen, die von der durchaus sexuellen - Liebe zweier Menschen erzählt,
wurde es nun als Beschreibung der Liebe Gottes oder Jesu zu den Menschen
interpretiert. Erst im 18. Jh war man wieder bereit, den eigentlichen Sinn
des Hoheliedes ernst zu nehmen. Und was man dann nicht alles entdeckt!
So muss man davon ausgehen, dass die Liebesbeziehung, die hier beschrieben
wird, vorehelich ist. Offensichtlich leben nämlich die Frau und der Mann,
die im Text eine Art Zwiegespräch führen, nicht zusammen. Die Frau schreibt:
«Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte
ihn und fand ihn nicht. Ich will aufstehen und die Stadt durchstreifen, die
Strassen und Plätze, will suchen, den meine Seele liebt.» (Kapitel 3, Verse
1-2). Sie lebt «
im Haus meiner Mutter
» (3,4), ist also noch ledig. Und
nicht nur sucht sie den Geliebten in der Nacht, sie wird auch von ihm
besucht und das im Geheimen: «Horch, mein Geliebter klopft: Öffne mir,
meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Makellose!» (5, 2). Für
eine voreheliche Liebschaft spricht auch, dass die Frau bei ihrem
nächtlichen Suchen des Geliebten von den Wächtern geschlagen wird (5,7)
ihr Herumtreiben und Suchen gilt als unsittlich - und dass er sie wiederholt
als Schwester bezeichnet, was laut dem Theologen Rüdiger Bartelmus «[
] als
verbale Tarnung einer sozial nicht akzeptierten freien Liebe zwischen zwei
Menschen gelten [
]» kann.
Mich freut, dass dieser Text in der Bibel steht. Er bildet einen Stachel im
Fleisch all derer, die die Liebe zwischen Menschen normieren wollen und
immer schon zu wissen vorgeben, welche Formen erlaubt und welche verboten
sind. Hier wird Liebe als das gefeiert, was sie vornehmlich ist: Eine
unbändige, unerhörte, schöne Kraft zwischen Menschen. Ein Geschenk Gottes.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Abbildung: Egon Schiele, Zwei Mädchen (Liebendes Paar), 1914. Quelle:
www.kunstkopie.de
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