Weg-Wort vom 24. Mai 2006
Heilsame Ungewissheit
Sie war verzweifelt und konnte es einfach nicht verstehen. Die ewigen
Streitereien waren nicht mehr auszuhalten. Für beide nicht. Eine vorläufige
Trennung war unvermeidlich. Dabei liebten sie sich doch. Waren sie getrennt,
führte ihre Sehnsucht nach einander sie wieder zusammen. Sobald sie aber mit
einander waren, fand das Streiten in Kürze seinen Fortgang.
Im begleiteten Paargespräch entdeckten sie, wie sie mit ihrer gegenseitig
festgelegten Einschätzung von einander ein wirkliches Gespräch
verunmöglichten. Sie waren sich so sicher, wie der andere war, was er dachte
und erwartete, warum er sich so oder so verhielt, wie sie sich zu ändern
hätten und dass sie doch alles für den andern getan hatten, was sie nur
konnten.
Ein wirkliches Gespräch zwischen zwei Menschen gibt es zumeist erst, wenn
beide zumindest ein wenig unsicher sind. Es braucht die Unsicherheit, die
Un-Gewissheit, ob ich den andern auch wirklich kenne und verstehe. Nur so
kann ich mich öffnen für ihn. Bin ich bereit, ihm wenigstens ein bisschen
neugierig zuzuhören. Ohne diese Unsicherheit und Neugier laufen wir schnell
Gefahr, den andern festzulegen, ihn zu belehren und zu überrollen.
Vielleicht sollte in unsern Gesprächen vermehrt eine Art respektvolle Angst
mitschwingen. Die Angst, den andern nicht wirklich in seinem Sosein, in
seinem Wesen zu erfassen. In seinem Wesen, das in jeder Situation neu und
anders von den ihm eigenen Gedanken und Gefühlen erfüllt und bestimmt ist
von seinen persönlichen Fragen und Anliegen, von seiner Unsicherheit und
persönlichen Meinung, von seinen Enttäuschungen, Sorgen, Hoffnungen und
Freuden.
Es sind diese persönlichen Gedanken und Gefühle, die uns für den andern
interessant und einmalig machen. Und die uns umgekehrt neugierig werden
lassen, dem andern interessiert und mit offenem Herzen zuzuhören. Um ihn
immer wieder neu in seinem aktuellen Sosein zu erfassen und ernst zu nehmen.
So kann gerade diese Un-Gewissheit über den andern uns gegenseitig immer
wieder neu unsere je eigene Besonderheit erfahren lassen, uns einander näher
bringen und unsere Beziehung lebendig erhalten.
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche