Weg-Wort vom 16. Januar 2012
Das Recht der Stärkeren
Meinen Arbeitsweg verlängere ich ab und zu mit einer ertüchtigenden
Velofahrt. Das gemütliche Treten gibt mir Gelegenheit, Weg-Worte
auszudenken, Belastendes abzustrampeln und die Natur zu geniessen.
Dabei bin ich als Velomobilistin eindeutig eine schwache
Verkehrsteilnehmerin. Schwächer als ich sind nur noch FussgängerInnen und
Kinder. Stärker als ich sind viele: Autos, Busse, Lastwagen.
Kürzlich ist es wieder passiert. Ein Lastwagen überholt mich. Er überholt
mich knapp und kurz, und wenn ich nicht mitgeschleppt werden will, gibt es
nur eines: bremsen! Und fluchen! Als der Adrenalinspiegel wieder im Lot ist
und ich ruhig weitertrete, sende ich dem Lastwagenchauffeur noch einen
Segen hinterher. Er braucht ihn dringend, vor allem, wenn er so weiterfährt!
Hier gilt also das Recht des Stärkeren! Und dem Schwächeren bleibt, Gott zu
danken, dass nichts geschehen ist. Ist es das, was den Schwächeren bleibt,
den Starken den Segen Gottes zu wünschen, damit nichts Schlimmeres
geschieht? Ja! - Aber das ist nicht alles!
Nicht überall bin ich die Schwächere. Als reiche Europäerin, als gebildete
Frau, als grossgewachsene, imposante Person gehöre ich mehrheitlich zu den
"Starken" dieser Welt. Da liegt es in meiner Verantwortung, dass ich
Rücksicht nehme, dass ich die Schwächeren nicht "überfahre".
Einmal mehr: "Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch
ihr ihnen ebenso." Gegenseitige Rücksichtnahme ist wichtig im Leben, nicht
nur auf der Strasse! In jedem Bereich unseres Lebens sind wir aufgefordert,
die Schwächeren und Ärmeren nicht noch mehr an den Rand zu drängen oder sie
gar zu vergessen. Eine Welt, in der alle nur an sich und ihr schnelles
Weiterkommen denken ist keine gute Welt. Eine Welt wünsche ich mir, in der
wir voneinander lernen und miteinander einen Weg gehen. Eine gerechte Welt,
die wir gemeinsam gestalten, ist eine gute Welt. Und ich bin froh um alle
Gebete, gute Gedanken und jeden Segen, die wir einander zusprechen, denn
nur so verlieren wir einander nicht aus den Augen, und das Recht der
Stärkeren ist das Recht der Schwächeren!
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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