Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 18. Oktober 2018
Der Wolf im Wolfspelz
Margaret Atwood hat am letzten Sonntag den Friedenspreis des deutschen
Buchhandels erhalten. Ihrer Dankesrede, in gekürzter Fassung im
Tagesanzeiger vom Montag abgedruckt, entnehme ich die kleine Fabel.
Sie bringt auf den Punkt, was heute in vielen Ländern geschieht:
Heute "
ist so ein Moment, wo die Kaninchen auf dem Feld die Ohren spitzen,
weil ein Jäger die Bühne betreten hat.
Da kommt er also des Weges, ein Wolf im Schafspelz, oder gar ein
Wolf im Wolfspelz, und dieser Wolf wird sagen: Kaninchen, ihr braucht einen
starken Anführer, und ich bin genau der Richtige für den Job. Ich werde wie
von Zauberhand die perfekte Welt der Zukunft erscheinen lassen, und Glace
wird auf Bäumen wachsen. Aber zunächst müssen wir die Zivilgesellschaft
abschaffen - sie ist zu weich, sie ist degeneriert -, und wir werden die
akzeptierten Verhaltensnormen aufgeben müssen, dank derer wir durch die
Strassen gehen können, ohne uns andauernd gegenseitig ein Messer in den
Rücken zu jagen. Und dann werden wir diese Leute abschaffen müssen. Erst
dann wird die perfekte Gesellschaft erscheinen!
Der Wolf sagt: Macht, was ich sage, und alles wird gut. Widersetzt ihr euch,
werde ich knurren und die Zähne fletschen und euch Stück für Stück
zermalmen. Die Kaninchen erstarren, weil sie verwirrt sind und Angst haben,
und als sie endlich dahinter kommen, dass der Wolf es ganz und nicht gut mit
ihnen meint, sondern alles nur zum Vorteil der Wölfe eingefädelt hat, ist es
zu spät." - Margaret Atwood entschuldigt sich bei den Wölfen.
Margaret Atwood ist dieser Fabel während ihrer Kindheit in der Wildnis im
Norden Kanadas begegnet. Erstaunlich: Sie erklärt unsere Welt präziser denn
je. Haben wir das nicht schon genug gehört, dass jetzt alles anders werden
muss, dass das Land neu erfunden werden muss oder der wahre Volkswille
endlich zum Tragen kommen muss und immer sind die andern schuld: Jetzt
heissen andern Asylbewerber, früher haben sie anders geheissen. Und immer
wieder enden solche Versprechen entweder in einer unendlichen Katastrophe
oder lösen sich im besten Fall in Luft auf. Ich bin für den besten Fall.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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