Weg-Wort vom 15. März 2006
Vertrauen
Mit dem Bergkollegen am Seil verbunden verlor ich jeweils vorübergehend
meine Schwindelgefühle und meine Ängste. Das gegenseitige Vertrauen, das in
der Verbundenheit durch das Seil sicht- und greifbar war, befreite mich vom
ängstlichen Blick zurück in die Tiefe und vom unsicheren Vorausschauen. Es
ermöglichte mir, mit voller Konzentration beim jeweiligen Griff oder Schritt
zu sein, ganz dem Augenblick ergeben.
Diese Bergerfahrung hat mir gezeigt: Alles, was mich hindert, ganz in der
Gegenwart zu sein, schneidet mich vom tatsächlichen Geschehen ab, schränkt
meine Lebendigkeit ein, ja kann sogar mein Leben gefährden. Wie zum Beispiel
das um der vermeintlichen Sicherheit willen krampfhafte Festhalten an
dem, was bisher war. Und die von der Angst geleiteten Pläne für die Zukunft.
Oder das Verharren in unüberprüften Meinungen und Denkmustern.
Im Gegensatz dazu setzt das Vertrauen auf den Fluss des Lebens in uns. Es
traut uns zu, die Fülle unseres Lebensflusses mit all seinen Strömungen und
Möglichkeiten im gegenwärtigen Moment immer wieder neu zur Verfügung zu
haben.
Vertrauen öffnet uns für die Erfahrung der Gegenwart, wie immer sie auch
ist. Es bringt zum Beispiel Unsicherheit und Angst nicht einfach zum
Verschwinden. Aber es ermöglicht, uns nicht von ihnen beherrschen zu lassen,
sondern mit ihnen weiterzugehen und den nächsten Schritt zu tun.
Denn das Vertrauen vermag, die Erfahrung des Augenblicks mit dem Rhythmus
und dem Strom unseres gesamten Lebens zu verbinden. Es ermöglicht uns, die
Fragen nach dem, wer wir sind und was wir zu tun in der Lage sind, in einen
grösseren Sinnzusammenhang zu stellen.
In seinem Gedicht Herbst bringt Rainer Maria Rilke diesen Aspekt des
Vertrauens in seiner ihm eigenen Art zum Ausdruck:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: Es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
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