Das Weg-Wort Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 5. Februar 2020
Die Preisverleihung
Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Ich war an ein grosses Event eingeladen.
Offenbar ging es darum, dass ein sehr einflussreicher Mann das Lebenswerk
der Anwesenden würdigen sollte. Dass ich mit dabei war, fand ich eigentlich
in Ordnung. Schliesslich war ich viele Jahre Pfarrer gewesen, voll
engagiert, mit Überstunden und allem. Nach der Pensionierung noch
Freiwilliger bei der Dargebotenen Hand. Immerhin!
Endlich ging es los. Der Gastgeber stellte sich als Herr Weinberger vor.
Grosses Brimborium mit Musik und Rede. Dann: «Und jetzt kommen wir zur
Preisverleihung, meine Damen und Herren.» Ich war bass erstaunt, als er
Karli nach vorne rief. Den hatte ich noch gar nicht bemerkt. Ich kannte ihn
von früher. Er hatte es schwer gehabt, im Leben: Durch ein Geburtsgebrechen
geistig behindert, konnte er nur eine Anlehre machen. Der frühe Tod seiner
Mutter trieb ihn in den Alkohol. Tragisch.
«Ist doch sympathisch, dass er auch dabei sein darf», dachte ich. Dass er
als Preis eine monatliche Rente von 7500 Fr. bis ans Lebensende zugesprochen
erhielt, fand ich ein bisschen übertrieben, aber irgendwie auch grosszügig.
Nach ihm kam eine sri-lankische Kioskfrau dran, danach eine Bundesbeamtin
aus dem Finanzdepartement. Auch sie wurden generös beschenkt.
Ich musste warten. Langsam nervte ich mich. Und ich war ziemlich sauer, als
mir klar wurde, dass ich erst ganz am Schluss an die Reihe kam.
«Danke. Danke für alles, was du getan hast» sagte Herr Weinberger und
umarmte mich herzlich. Ich blickte ihn erwartungsvoll an. Er lächelte. «Äh,
mein Preis?» «Du mit der tollen Rente, die du schon kriegst? Du hast doch,
was du brauchst!» «Aber - das ist ja das Allerletzte» stiess ich hervor.
«Kein Preis für mich? Nach allem, was ich getan habe!» «Ach, stimmt» sagte
er «du bist ja der Letzte. Komm, jetzt gibt es ein grosses Fest für alle.
Komm mit!» «Wer sind Sie überhaupt?» schnaubte ich wütend. «Du kennst mich
nicht, nach all den Jahren?» fragte er und lachte. Dann bin ich aufgewacht.
Empfohlene Hintergrundlektüre: Matthäusevangelium 20, 1-16; Lukasevangelium
15,11-32
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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