Weg-Wort vom 11. Oktober 2012
Selbstachtung
Im Altersheim begegne ich ganz mutigen Menschen. Sie sind konfrontiert mit
ihrem Schwächer-Werden, gehen ihren Weg und lernen dabei ihre Selbstachtung
nicht zu verlieren. Wie viele von uns definieren sich über die Arbeit? Es
ist nicht der Haushalt, nicht die Freiwilligenarbeit, sondern die
Lohnarbeit: Bin ich nur wertvoll, wenn ich auch genug verdiene? Wer bin ich
denn noch, wenn ich keine Arbeit habe, nichts zu tun und nichts zu
verdienen?
Wenn alles wie am Schnürchen läuft, dann braucht es diese Fragen nicht. Und
glücklich, wer sich solche Fragen nicht stellen muss. Glücklich darf er
sein, einfach nicht überheblich werden und sich selber alles Geschenkte als
Verdienst zuschreiben. Denn oft mischt sich ins eigene Engagement recht viel
Glück, Zufall oder Gnade. Am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein, hängt
von so vielem ab. Das haben wir nicht im Griff.
Unglücklich kann der werden, der sich oft als einen erfährt, der zur
falschen Zeit am falschen Ort ist und das Gefühl hat, er ziehe das Unglück
an. Auch der darf sich das nicht einfach als Verdienst zuschreiben. Da
mischt sich oft ins eigene Engagement recht viel Unglück, Zufall oder Pech.
Spätestens, wenn ein Umzug ins Alters- oder Pflegeheim bevorsteht, wird
deutlich, dass der Mensch nicht wertvoll ist, weil er dies und jenes getan
hat, sondern weil er geliebt ist; geliebt von uns, geliebt von Gott. Und da
geht der Kampf um Selbstachtung erst richtig los. Ein solcher Umzug heisst
für viel zu viele Menschen nichts anderes als: Ich bin nicht mehr fähig,
mein Leben selbst zu gestalten. Ich brauche Hilfe von aussen, falle zur
Last.
Dass wir oft nicht früher merken und auch leben, dass Gottes Liebe uns
unseren Wert zuspricht, gehört wohl zur grössten Illusion unseres Lebens
oder zum grössten Selbstbetrug. Schwächer werden wird dann zur Katastrophe.
Wo anders kann da die Quelle unserer Selbstachtung sein, wenn nicht bei
Gott? Wenn er uns achtet, können wir es auch selber tun. Gott achtet uns.
Das hält uns.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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