Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 26. März 2019
Ein Wächter
Kennen Sie die Unruhe? Die Geschäftigkeit?
Oft meine ich, dies und das noch erledigen zu müssen, dann kann ich auch das Handy nicht
aus der Hand legen, wer weiss, vielleicht meldet sich...
Für mich hat Wasser eine beruhigende Wirkung. Ich sitze gern am See oder Fluss. Schon als
Jugendliche habe ich für Prüfungen am See gelernt. Ich schwimme auch gern und manchmal
gönne ich mir ein Vollbad zum Entspannen. Zum Sitzen am Wasser eine Geschichte:
"Ba'al Shem Tov, der grosse chassidische Meister, setzte sich oft spät abends an
einen Fluss, um zu meditieren. Nach einer Weile stand er dann wieder auf und kehrte nach
Hause zurück. Sein Weg führte an einem mächtigen Herrschaftshaus vorbei, vor dem ein
Wachposten stand. Der Wächter wunderte sich, was dieser seltsame Mann trieb. Einige Male
folgte er ihm bis zum Fluss, doch er konnte nichts Besonderes feststellen.
Schliesslich wagte er es, ihn direkt zu fragen: 'Ich sehe Sie oft zum Fluss gehen, und
entschuldigen Sie meine Neugier, ich bin Ihnen auch schon gefolgt. Aber ich verstehe
nicht, was Sie dort suchen. Sie tun ja nichts! Sie sitzen nur am Wasser und kehren wieder
zurück?'
'Ich weiss, dass Sie mir schon oft gefolgt sind', antwortete der Ba'al Shem,
'denn die Nacht ist still, und ich konnte Ihre Schritte hören. Auch habe ich Sie schon
oft vor dem Tor dieses grossen Hauses gesehen. Was machen Sie denn eigentlich?'
'Oh, ganz einfach: Ich bin Wächter.' 'Welch ein Zufall', rief der
Ba'al Shem, 'auch ich bin einer!' 'Aber wenn Sie ein Wächter sind, dann
müssen Sie doch etwas haben, das Sie bewachen, ein Haus, einen Palast oder einen Park.
Aber ich sehe Sie nur am Fluss sitzen...' 'Der Unterschied zwischen uns ist klein:
Sie bewachen ein Haus, ich bewache mich selber. Sie beobachten, was sich rund um dieses
Haus tut, ich beobachte, was in mir vorgeht.'
'Seltsam', brummte der Wächter' 'und wer bezahlt Sie dafür?' 'Mein
Lohn ist eine Ruhe, die durch kein Geld dieser Welt aufgewogen werden kann.'"
(Aus "Wie schnürt ein Mystiker seine Schuhe?" von Lorenz Marti)
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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