Weg-Wort vom 5. Juli 2007
Die Entdeckung der Langsamkeit
Es gibt in unserer Zeit Worte, die in der Wertehierarchie ganz oben stehen.
Worte wie Flexibilität, Mobilität, Erfolg, Fitness wirken wie
unhinterfragbare Selbstverständlichkeiten. Zu diesen Worten gehört auch das
Wort Schnelligkeit, Beschleunigung. Beeil dich! Mach schneller! Wo bleibst
du denn? haben wir sicherlich in unserer Kindheit oft gehört. Auch heute
leben wir vielleicht nach einem geheimen Befehl: Was immer du tust,
erledige es möglichst schnell. Wollen die Menschen in der kurzen Spanne
ihrer Lebenszeit etwas vom Leben haben, dürfen sie nichts verpassen. In
einem endlichen Leben gibt es nie genug Zeit.
Durch Schnelligkeit allein aber lässt sich kein mehr an Zeit gewinnen. Die
Befristung menschlicher Lebenszeit zwingt uns nicht nur zur Beschleunigung;
sie zwingt uns auch zu Verlangsamungen und Unterbrechungen. Wir müssen
Zeiten und Räume entdecken, in denen es möglich wird, auf andere Weise Zeit
zu gewinnen. Dazu gehört die Entdeckung der Langsamkeit.
Wir brauchen Zeiten, in denen wir etwas langsamer leben. Die Entdeckung der
Langsamkeit könnte bedeuten: am Morgen langsamer aufstehen, ein paar Minuten
nach dem Erwachen noch liegen bleiben, ein paar Traumfetzen wahrnehmen;
spüren, wie wir uns fühlen; auf den Tag vorausschauen, was auf uns zukommt.
Die Entdeckung der Langsamkeit könnte bedeuten: sich am Tag ein paar Pausen
gönnen, weniger von einem zum andern hetzen, das Leben nicht konsumieren und
verschlingen. Die Entdeckung der Langsamkeit bedeutet vor allem: lernen,
ganz bei dem zu sein, was wir gerade tun. Die Geschichte eines alten Weisen
drückt dies folgendermassen aus. Befragt nach dem Geheimnis seines Lebens,
antwortet er:
Ich sitze, wenn ich sitze, und stehe, wenn ich stehe, und gehe, wenn ich
gehe. Darauf sagen die Fragenden: Das tun wir doch auch! Der Weise
bemerkt darauf hin: Nein, das tut ihr nicht. Wenn ihr sitzt, dann steht ihr
schon, und wenn ihr steht, dann geht ihr schon, und wenn ihr geht, dann
sitzt ihr schon wieder.
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