Weg-Wort vom 28. Juli 2009
Kritik als Liebesdienst
Wenn dein Bruder oder deine Schwester gesündigt hat, dann geh und weise sie
unter vier Augen zurecht (Mt 18,15).
Wir alle wissen, wie schwer eine solche Zurechtweisung ist. Selbst bei
unseren Angehörigen und Freunden wagen wir sie kaum. Und ganz ehrlich
gesagt wir selber ertragen ein offenes Wort der Kritik nur ungern.
Mit der Freundin, dem Nachbarn, dem Arbeitskollegen hingegen lässt es sich
herrlich über einen lieben Mitmenschen losziehen. Aber den Betreffenden
selber zur Rede stellen, ihn zu einem klärenden Gespräch einladen, dazu
braucht es ein gehöriges Stück Zivilcourage. Wir wissen ja, wie oft ein
solches Gespräch abgelehnt wird und mit einer Abfuhr endet. Und wie oft
missglückt ein solches Gespräch in der eigenen Familie!
Aber müssten wir ein solches Gespräch nicht wenigstens versuchen? Dabei
sollten wir dem anderen allerdings die Wahrheit nicht wie einen kalten
Waschlappen ins Gesicht schleudern, sondern ihm die Wahrheit wie einen
warmen Mantel hinhalten, in den er hineinschlüpfen kann.
Der einstige Uno-Generalsekretär Dag Hammarskjöld berichtet in seinem
Tagebuch von einem Mitarbeiter, der zwar tüchtig, aber so unbeherrscht und
stur war, dass er mit jedem seiner Kollegen Streit bekam. Und wie es für
einen solchen Charakter typisch ist, sah er die Schuld nie bei sich selber,
sondern immer beim anderen.
Die Situation wurde schliesslich so unerträglich, dass Hammarskjöld ihn
eines Tages zur Rede stellte und ihm im Gespräch Schritt für Schritt klar
machte, wo die wirkliche Ursache des Unfriedens lag. Und als dieser Mann
gegen Ende des Gesprächs zum ersten Mal seine eigene Schuld erkannte, brach
er zusammen und sagte: Warum hat mir denn in all den Jahren niemand etwas
gesagt? Warum hat mir keiner geholfen. Keiner hat mich je gelobt und keiner
hat mich je getadelt.
Jeder Mensch hat das Recht, kritisiert zu werden aus Liebe.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Susanne Wey, Beat Schlauri
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