Weg-Wort vom 26. Mai 2008
Vom Beten
In einer Gesprächsgruppe sagte eine junge Teilnehmerin: Ich bete nie am
Sonntagmorgen. Da beten so viele Menschen auf der halben Welt. Das muss ein
einziges Stimmengewirr sein für den lieben Gott da kann er mich gar nicht
raushören! Da gehe ich unter im Lärm der vielen Bitten und Klagen, die er
sich anhören muss.
Alle waren überrascht und einen Moment sprachlos. Darüber hatten sie noch
nie nachgedacht. Einige Anwesende stimmten ihr bei. Jemand sagte: Wenn ich
bete, habe ich das Gefühl, Gott in diesem Moment ganz allein für mich zu
haben. Andere meinten, Gott höre ganz bestimmt alles. Das könne gar nicht
anders sein. Aber wie, das konnten sie sich nicht erklären.
Mich beeindruckt die Antwort eines Jungen, der bei einer Umfrage über
Gottesvorstellungen antwortete: Gott stelle ich mir als Person vor, und
zwar als jemand, der es schafft, fünf Milliarden Menschen und noch mehr so
lieb zu haben, als wären es seine Einzelkinder.
Mit dem Gleichnis von der hartnäckigen Witwe (Lk 18,1-8) wollte Jesus den
Jüngern zeigen, dass sie allzeit beten und darin nicht nachlassen sollten.
Wie die Witwe, die den ungläubigen Richter so inständig bat, ihr zu ihrem
Recht zu verhelfen, dass sie ihm lästig wurde, und er ihr half. Wenn schon
ein korrupter Richter ein Einsehen hat, wie viel eher wird dann Gott uns
hören, wenn wir wie die Witwe beharrlich, unverschämt hartnäckig und aus
vollem Herzen beten?
Gott nervt sich nicht über die unzähligen Gebete. Er möchte nicht in Ruhe
gelassen werden. Im Gegenteil, er will die Beständigkeit unseres Betens.
Jeden Tag, jede Stunde sollen wir daran denken, dass wir mit ihm und dank
ihm leben.
Ein Bruder der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé sagte einmal über die
gemeinsamen Gebete in den Klöstern der Welt: Die Erde atmet nicht mehr
wirklich durch, sie vertrocknet inmitten aller Tränen, wenn es nicht auch
diese Orte gibt, an denen das Lob Gottes gesungen wird. Sie sind wie Quellen
frischen Wassers.
Dasselbe gilt für unsere Seele. Beten ist wie das Durchatmen der Seele. Es
reinigt sie, lässt sie heil werden und ist zugleich ihre grundlegende
Nahrung und die Quelle einer lebendigen Beziehung mit Gott.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
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