Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 22. März 2016
Opfer
"Du Opfer!" So wirft es heutzutage schon mal ein Jugendlicher dem anderen an den
Kopf, wenn er ihn als Aussenseiter, als Versager, als "Loser" brandmarken will.
Das Wort "Opfer" ist zum Schimpfwort geworden.
Mitleid mit dem Opfer, eine jahrhundertelange Tradition des Mitgefühls, wird - manchmal
buchstäblich - mit Füssen getreten. Schwäche, Ängste, Ausgeliefertsein: Alles, was sich
mit dem Opfersein verbindet, wird abgewehrt, um die eigene Identität umso stärker zu
behaupten. Nun kann man psychologisch geschult rasch analysieren: Hinter allem dem steht
eine enorme Angst vor der Opferrolle und der unbewusste Zwang, alles, was mit dem
Opfersein zu tun hat, aus der Entwicklung - gerade der männlichen - Identität zu
verbannen. Allerdings lehrt ein knapper Blick in die Erwachsenenwelt ebenso schnell, dass
dort zwar keiner so redet, aber viele nach dem gleichen Muster handeln: Mitleid gilt als
Schwäche, Geschäfte lassen sich nicht mit Mitgefühl, sondern nur im Bewusstsein der
eigenen Stärke machen. Um vorwärts zu kommen, darf man keine falschen Rücksichten nehmen,
besser die Ellenbogen einsetzen, als unterzugehen.
In der Geschichte der Erde und der Menschen sind aber die Opfer nicht aus der Welt
geschafft. Medial erleben wir täglich mit, wie Menschen zu Hunderttausenden zu Opfern
werden. Obwohl dem Kreislauf von Schuld und Vergeltung seit dem ersten Karfreitag die
göttliche Rechtfertigung abhanden gekommen ist, machen Menschen, auch Christen, immer
wieder Menschen zu Opfern. Der Karfreitag hat die Welt offenbar nicht so verändert, dass
es kein Leid und keine Leidenden mehr gäbe. Aber er hat die Perspektive umgekehrt, in der
Schuld und Opfer zu sehen sind. Und damit die Wahrheit ans Licht gebracht, auf die wir uns
verlassen können. Auf die Wiederkehr des Gekreuzigten zu warten heisst, die Welt aus der
Sicht der Opfer zu sehen: Mit den Opfern zu fühlen, mit ihnen zu leiden, sich an ihre
Seite zu stellen. "Du Opfer!" - Ja, als Christinnen und Christen wissen wir um
Opfer. In der Nachfolge des Gekreuzigten stehen wir an ihrer Seite, eben weil es keine
Opfer mehr braucht!
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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