Weg-Wort vom 17. Mai 2010
Den Schmerz nicht weitergeben
Er beklagte sich über den ständigen Streit daheim in der Familie, mit den
Kindern und seiner Frau. Im Verlauf des Gesprächs zeigte es sich, dass ihn
seine Stelle seit längerer Zeit schwer belastete. Er fühlte sich als Mensch
nicht mehr ernst genommen. Er war nur noch eine Nummer, Jongliermasse eben,
die man je nach Bedarf noch stärker auspressen könne.
Den Schmerz und die Enttäuschung darüber, die Wut und die Trauer auch hatte
er immer verdrängt. Er wollte sie nicht wahrhaben. Aber unbewusst gab er
dieses Gefühlschaos weiter an seine Familie. Er erschrak, als ihm das
bewusst wurde, und suchte darum die Hilfe einer Fachperson. Schon bald
berichtete er erfreut, dass die Streitereien in der Familie fast ganz
aufgehört hätten.
Viele Menschen sind Sammler! Sie tragen jahrelang Gesammeltes mit sich
herum: schmerzhafte Verletzungen, unzählige Enttäuschungen und die
niederdrückenden Gefühle, dass sie immer zu kurz gekommen, ungerecht
behandelt, hintergangen oder im Stich gelassen worden sind.
Sie sehen die Welt zunehmend negativ, ziehen sich in ihre Verbitterung
zurück oder belasten ihre Umgebung durch ihre Griesgrämigkeit, ihr Schimpfen
und Klagen über alles und jeden. Anderen wird all das Gesammelte plötzlich
zu viel. Ihr Gefühlsgemisch kann dann in explosionsartige Wutanfälle
umschlagen.
Wie auch immer allen Schmerz, jede Enttäuschung, die wir verdrängen, die
wir nicht ansehen und ernst nehmen, geben wir auf die eine oder andere Weise
anderen weiter. Wenn wir das vermeiden wollen, sollten wir uns stets unseren
Gefühlen stellen. Zum Beispiel vor dem Nachhausegehen:
Uns Zeit nehmen und im Zug, auf einer Parkbank oder bei einem Spaziergang in
uns hineinspüren und den aufkommenden Gefühlen Raum geben: Was oder wer hat
mich heute enttäuscht? Was hat mir weh getan, mich verletzt, geärgert oder
wütend gemacht? Was hat mich gefreut? Was hat mir gut getan?
Diese Gefühle annehmen und eine Weile ganz mit ihnen sein und sie dann
auch wieder loslassen. Vielleicht gelingt es mir sogar, sie an dem Ort zu
lassen, wo ich gerade bin. Mir tut es zudem gut, sie in einem Gebet auch
Gott anzuvertrauen. Denn ich weiss, dass er immer mit uns ist, mit unserem
Schmerz genauso wie mit unserer Freude.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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