Weg-Wort vom 25. Juni 2007
Der Mann mit den Bohnen
Wenn ich Menschen zuhöre, die einander berichten, was ihnen von anderen doch
wieder Schlimmes widerfahren ist, worüber sie sich aufregen mussten, was
ihnen den ganzen Tag verdorben hat, dann spüre ich die Schwere, die diese
Menschen verbreiten. Und manchmal kommt mir dabei die Geschichte vom Mann
mit den Bohnen in den Sinn:
Als der alte Mann gefragt wurde, warum er sich einer besten Gesundheit
erfreue, er so zufrieden und fröhlich sei, berichtete er nach kurzem Zögern
von einer alten Gewohnheit. Er verliess sein Haus nie, ohne eine Handvoll
Bohnen in seine Tasche zu stecken. Das tat er nicht etwa, um sie zu kauen,
sondern um die schönen Momente des Tages bewusster wahrzunehmen und sie
besser zählen zu können.
Für jede noch so kleine Situation, die ihn erfreute, liess er eine Bohne von
der rechten in die linke Tasche wandern. Das waren zum Beispiel: Ein
freundliches Guten Morgen von der unbekannten Sitznachbarin im Zug. Die
spannende Diskussion mit seinem Neffen über den Sinn der Hausaufgaben. Ein
besonders schön gelungenes Stück seiner Schreinerarbeiten. Das herzhafte
Lachen seiner Frau. Der Schattenplatz in der Mittagshitze
Abends legte er die Bohnen seiner linken Tasche vor sich hin und zählte sie.
Er führte sich dabei jede einzelne Situation noch einmal vor seine inneren
Augen, freute sich, genoss sie ausführlich und nahm sie tief in sich auf.
Zum Schluss meinte er: Diese unzähligen Freuden hätten ihm Kraft gegeben,
auch all die schwierigen und schweren Stunden seines Lebens durchzustehen,
daraus zu lernen und sie dann loszulassen.
Wenn ich Menschen zuhöre, die einander berichten, was ihnen von anderen
Gutes widerfahren ist, worüber sie sich freuen konnten, was sie für den
ganzen Tag aufgestellt hat, dann spüre ich die Leichtigkeit und Freiheit,
die diese Menschen verbreiten. Ich kann mich ihrer Freude nicht entziehen
und lasse mich gerne anstecken.
Und - ich entdecke in meinem Alltag stets mehr Gelegenheiten, über die ich
mich von Herzen freue.
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Hauptbahnhof Zürich
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