Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 16. Oktober 2014
Wenn ich an den Freitagnachmittagen nach der Schule zu meinem Grossvater zu
Besuch kam, dann war in der Küche bereits der Tisch zum Teetrinken gedeckt.
Mein Grossvater hatte seine eigene Art Tee zu trinken. Er füllte Teegläser
direkt aus einem silbernen Samowar. Wenn wir unseren Tee ausgetrunken
hatten, stellte mein Grossvater stets zwei Kerzen auf den Tisch und zündete
diese an. Dann wechselte er auf Hebräisch einige Worte mit Gott. Ich sass da
und wartete geduldig, denn ich wusste, jetzt würde gleich der beste Teil der
Woche kommen.
Wenn Grossvater fertig damit war, mit Gott zu sprechen, wandte er sich mir
zu und sagte: Komm her, Neshume-le. Ich stellte mich dann vor ihn hin und
er legte mir sanft die Hände auf den Scheitel. Dann begann er stets, Gott
dafür zu danken, dass es mich gab und dass Er ihn zum Grossvater gemacht
hatte. Er sprach dann immer irgendwelche Dinge an, mit denen ich mich im
Verlauf der Woche herumgeschlagen hatte. Wenn ich während der Woche
irgendetwas angestellt hatte, dann lobte er meine Ehrlichkeit. Und dann gab
er mir seinen Segen. Diese kurzen Momente waren die einzige Zeit während
meiner ganzen Woche, in der ich mich völlig sicher und in Frieden fühlte.
In meiner Familie der Ärzte rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen
und noch mehr zu sein. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis
von 98 von 100 Pluspunkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater: Und was
ist mit den restlichen zwei Punkten? Während meiner gesamten Kindheit
rannte ich unablässig diesen zwei Punkten hinterher. Aber mein Grossvater
scherte sich nicht um solche Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon
genug.
Mein Grossvater starb, als ich sieben Jahre alt war. Es war schwer für mich
ohne ihn zu leben. Er hatte mich auf eine Weise angesehen, wie es sonst
niemand tat, und er hatte mich bei einem ganz besonderen Namen genannt
Neshume-le, das geliebte kleine Seele bedeutete. Jetzt war niemand mehr
da, der mich so nannte. Mit der Zeit begann ich zu begreifen, dass ich auf
irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt hatte, mich durch seine Augen zu
sehen. Und dass einmal gesegnet worden zu sein heisst, für immer gesegnet zu
sein.
(Gekürzte Form aus: Rachel Naomi Remen, Aus Liebe zum Leben)
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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