Weg-Wort vom 13. April 2006
Was Liebe vermag
Versetzen wir uns zurück ins Jahr 1849. Am 22. Dezember jenes Jahres wurden
in St. Petersburg 15 Männer zur Hinrichtung geführt, deren Einsatz für mehr
Gerechtigkeit dem Geheimdienst des russischen Zaren verdächtig erschien.
Unter ihnen befand sich auch der grosse Dichter Dostojewskij. Eben hatte er
seine letzten Worte an das von ihm so geliebte russische Volk gerichtet; sie
gipfelten in dem Bekenntnis: Ihr könnt mir gar nichts tun, was mich hindern
könnte, euch zu lieben. In eben diesem Augenblick traf die Nachricht ein
von der Begnadigung zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Sibirien.
Ihr könnt mir gar nichts tun, was mich hindern könnte, euch zu lieben.
Diese Worte des Dichters passen bestens zum Beispiel und Verhalten Jesu am
Ende seines Lebens. Sie passen vor allem zum Geheimnis, das wir am heutigen
Hohen Donnerstag oder Gründonnerstag begehen. Wir erinnern uns am heutigen
Tag des letzten Mahles, das Jesus mit seinen Anhängern gefeiert hat. Der
Evangelist Johannes leitet seinen Bericht über dieses letzte Zusammensein
ein mit den Worten: Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies
er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung (Joh 13,1b).
In beiden Fällen gehen Menschen bewusst ihrem Ende entgegen. Der Tod besagt
ohne Zweifel das unwiderrufliche Ende aller Möglichkeiten. Für Dostojewskij
wie für Jesus ist der Tod nicht einfach Hinrichtung, sondern eine letzte Tat
der Liebe: Ihr könnt mir gar nichts tun, was mich hindern könnte, euch zu
lieben.
Mit andern Worten: Ihr könnt mich missachten, verspotten, verleumden,
umbringen; nur eines schafft ihr nicht, mich daran zu hindern, euch zu
lieben. Jesu Liebe lässt sich nicht auslöschen, weil sich in ihr Gottes
Liebe verbirgt. Geschenk davon ist uns das Abendmahl, an dem Jesus uns an
seinen Tisch holt und uns seine Liebe schenkt.
Verglichen mit Jesu Liebe ist und bleibt menschliche Liebe immer menschlich.
Aber sie kann und darf über sich hinauswachsen. Wie weit reicht meine Liebe
zu den Menschen? Bin auch ich fähig zu sagen: Ihr könnt mir gar nichts tun,
was mich hindern könnte euch zu lieben? Der heutige Tag möchte uns
einladen, nach dem Beispiel Jesu liebesfähig zu werden.
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche
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