Weg-Wort vom 6. März 2006
Verdanktes Leben
Wenn wir einen Blick auf Frauengestalten des Alten Testamentes werfen, fällt
uns auf, dass immer wieder von der Unfruchtbarkeit von Frauen die Rede ist:
Sara, Rebekka, Rachel, die Mutter des Simson, Hanna, Elisabeth. Es ist
seltsam, dass sich dieser Gedanke wie ein roter Faden durch die ganze
Geschichte Israels zieht.
Alle diese Frauen werden Mütter durch ein wunderbares Eingreifen Gottes.
Dabei scheint es, dass die Bibel die Unfruchtbarkeit nicht als einen Makel
herausstellen will. Sie möchte das Volk Israel vielmehr hinweisen auf die
ungeahnten Möglichkeiten Gottes. Gott möchte sein Volk dahin bringen, dass
es versteht, dass nicht Menschenmacht Leben schaffen kann, sondern dass Gott
der eigentliche Schöpfer des Lebens ist, dass Israel das, was es ist, Gott
verdankt. Die Israeliten sollen sich als Kinder Gottes verstehen.
Uns Menschen fällt es immer wieder schwer, uns selber und unser ganzes
Leben, dem lebendigen Gott als dem tiefsten Geheimnis unseres Lebens zu
verdanken. Wahrscheinlich fällt es uns deshalb so schwer, weil wir fast
alles im Leben selbstverständlich nehmen. Nur zu leicht übersehen wir, dass
sich gerade die scheinbaren Selbstverständlichkeiten unseres Lebens gar
nicht so von selbst verstehen.
Versteht es sich von selbst, dass wir heute Morgen zu einem neuen Tag und
einer neuen Woche erwacht sind? Ist es selbstverständlich, dass wir mit
Augen und Ohren die Welt um uns herum wahrnehmen können? Und versteht es
sich wirklich von selbst, dass Menschen uns lieben und sich uns zusprechen?
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch meint in einer Tagebuchnotiz, keine
Instanz und keine Behörde verlange von uns jährlich wie das Finanzamt
eine Liste der Dankbarkeiten. Dennoch spielt Frisch mit diesem originellen
Gedanken und stellt für sein persönliches Leben eine lange Liste zusammen,
auf welcher er vermerkt, wofür er danken möchte, würde von ihm binnen einer
Woche eine solche Liste der Dankbarkeiten abverlangt.
Die Liste der persönlichen Dankbarkeiten von Frisch braucht uns nicht zu
interessieren. Was uns hingegen interessieren sollte, ist sein Einfall: Wie
wäre es, wenn jeder und jede von uns für sich in einer Zeit der Stille und
Besinnung eine solche Liste der Dankbarkeiten aufstellen würde?
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche
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