Weg-Wort vom 29. Juli 2008
Von der Kraft des Schweigens
Mongolische Nomaden haben eine hohe Kultur der schweigenden Kommunikation
entwickelt. Was wir diesbezüglich von ihnen lernen können, beschreibt
Cathrin Schmid in ihrem Buch Land unter Wind:
Auch der Gebrauch der Sprache ist verschieden von dem unsrigen. Es wird
wenig geredet. Aber das Nicht-Reden verbreitet eine andere Atmosphäre als
bei uns. Die Verbindung zwischen den Menschen wird dadurch nicht
unterbrochen. Im Gegenteil, das Netz der feinen Schwingungen, das durch
Blicke, Bewegungen, von der Art des Sitzens und Stehens, des Hereinkommens
und Weggehens entsteht, wird deutlich spürbar. Du fühlst Dich aufgenommen,
gehalten ...
Das schweigende Nebeneinander-Sitzen hat eine starke Kraft. Wenn Du nach
einer Weile aufstehst, merkst Du, dass sich etwas ereignet hat ohne
äusseres Ereignis. Du fühlst Dich an dem Punkt der Erde, wo Du gesessen
hast, auf seltsame Weise zu Hause, Du fühlst Dich mit den Menschen, mit
denen Du schweigend zusammen warst, verbunden und Du hast einen stillen
Frieden in Dir.
Wenn bei uns Schweigen eintritt, werden wir äusserst unsicher. Wir suchen
das Feld ab nach Feindseligkeit, quälen uns mit Anklagen, Schuldgefühlen und
Befürchtungen. Unser Denken wird angetrieben, unser Wesen angespannt.
Dort entspannst Du Dich im Schweigen wie in einem Bad. Du wirst aufgenommen
von einer grundlegend und selbstverständlich akzeptierenden Atmosphäre, die
sich auf alle Lebewesen zu erstrecken scheint ...
Vor dem Hintergrund des Wenig- und Nicht-Redens wurde mir unser zwanghaftes
Viel- und Dauerreden bewusst. Unsere Zeit ist fast lückenlos und pausenlos
mit Wörtern ausgefüllt. Durch das Reden entsteht für uns erst ein Gefühl von
Realität. Was wir nicht mit Wörtern anfassen können, verleugnen wir, es
existiert nicht. Wir merken nicht, wie sehr Reden Einflussnahme und
Machtausübung ist.
Wer reden kann, wird bei uns geachtet. Wer es nicht so gut kann, hat einen
schweren Stand. Die Menschen dort werden stärker nach dem beurteilt, was sie
tun und wie sie es tun. Uns scheint es zu befriedigen und zu beruhigen, wenn
wir über die Dinge, auch über ganz selbstverständliche, reden können. Die
Menschen dort bleiben im Schauen, im Betrachten und in den Stimmungen,
welche das Schauen in ihnen auslöst.
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
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